Die große Lebensmittelverschwendung
Es ist seit Langem bekannt: Zu viele Lebensmittel landen in der Tonne. Mit Blick auf einen verantwortlichen Umgang mit der Schöpfung ist das mindestens ärgerlich, angesichts des Hungers in anderen Teilen der Welt ein Skandal. Zwei Ortsbesuche bei einer Familie und im Supermarkt geben Einblicke in einen Missstand unserer Zeit.
Sie tun es. Ihre Nachbarn tun es. Und Ihr Supermarkt tut es auch. Wir alle leben mit einem Skandal, der so nicht sein müsste: dem massenhaften Wegwerfen von Lebensmitteln, die ohne Weiteres noch verwertet werden könnten. Das Phänomen ist grundsätzlich bekannt: So sorgen immer wieder Geschichten vom „Containern“ für Aufsehen – so nennt man das eigenmächtige Mitnehmen von weggeworfenen Lebensmitteln vor allem aus Müllbehältern von Fabriken und Supermärkten. Dass diese Praxis in Deutschland als eine Form von Hausfriedensbruch und Diebstahl verfolgt werden kann, erzeugt regelmäßig Empörung und verschafft „Lebensmittelrettern“ mediale Aufmerksamkeit.
Andererseits informieren auch Behörden und Umweltorganisationen die Öffentlichkeit immer wieder über die Lebensmittelverschwendung. So hat das Statistische Bundesamt für das Jahr 2021 ermittelt, dass in Deutschland rund 11 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen wurden, das entspricht über 130 Kilogramm pro Einwohner. Über die Hälfte davon fällt in Privathaushalten an: Jeder Endverbraucher wirft jährlich 78 Kilogramm Lebensmittel weg. Vielleicht ist es aber noch viel mehr: Die etwas ältere WWF-Studie „Das große Wegschmeißen“ geht sogar von 18 Millionen Tonnen Lebensmittelmüll pro Jahr in Deutschland aus.
Zahlen sind nicht Teil der eigenen Lebensrealität
Das sind ernüchternde Zahlen, die aber offenbar nichts an der Situation ändern. Warum das so ist? Vielleicht, weil das Problem in zu abstrakter Form daherkommt: Ob 11 oder 18 Millionen Tonnen – diese Zahlen sind nicht Teil der eigenen Lebensrealität. Als Individuum kann man sie schlecht einordnen oder mit dem eigenen Handeln in Verbindung bringen. Ein weiterer Faktor ist die Vielschichtigkeit des Problems: Lebensmittelabfälle fallen zwar vor allem im privaten Haushalt an, aber längst nicht nur dort. Es gibt sie auch bei der Erzeugung und Verarbeitung, beim Transport und im Handel. Und natürlich überall dort, wo außerhalb der eigenen vier Wände gegessen wird, man denke nur an Restaurants, Krankenhäuser, Flugzeuge, Kindergärten, Hotels, Firmenkantinen und Fußballstadien.
Dazu kommt, dass aus den unterschiedlichsten Gründen weggeworfen wird. Um nur den Handel zu beleuchten: weil Platz geschaffen werden muss für neue Ware oder weil Leichtverderbliches nicht mehr verkauft werden darf, weil überproduziert wurde oder weil schon Schimmel dran ist, weil falsch gelagert wurde oder leider auch, weil das Spenden von überzähligen Lebensmitteln manchmal in einen rechtlichen Graubereich führt, während die Entsorgung ein einfaches und sicheres „Kavaliersdelikt“ ist.
Bequemlichkeit und optische Mängel
Die vielleicht überflüssigsten und fragwürdigsten Wegwerfgründe wurden noch gar nicht genannt: Das ist einerseits die Bequemlichkeit (einzelne Früchte verderben, werden jedoch nicht aussortiert; stattdessen werden alle gemeinsam entsorgt) und andererseits der optische Mangel: So wird hochwertiges Gemüse bereits bei der Ernte auf dem Feld liegen gelassen oder auf dem Weg zum Marktstand entfernt, nur weil es nicht der Norm entspricht. An dieser Stelle lohnt es sich, kurz innezuhalten und sich vor Augen zu führen: In unserem Land herrscht in der Lebensmittelbranche wie selbstverständlich ein System vor, in dem „zweibeinige“ Karotten und krumme Gurken von bester Qualität weggeworfen werden, nur weil … ja, warum eigentlich? Auf dem Gemüsemarkt scheint die Debatte um Diversität und Vielfalt jedenfalls noch nicht angekommen zu sein.
Schließlich, um ein weiteres Beispiel für die Komplexität des Sachverhalts zu nennen: In Deutschland wird bei Lebensmittelprodukten zwischen einem Verbrauchsdatum (z. B. „Gekühlt bei +2° C bis +7° C zu verbrauchen bis …“) und einem Mindesthaltbarkeitsdatum (z. B. „Ungeöffnet mindestens haltbar bis …“) unterschieden. Ersteres gibt bei leicht verderblichen Lebensmitteln das Datum an, nach dem es nicht mehr verkauft werden darf und nicht mehr gegessen werden sollte. Das viel häufigere Mindesthaltbarkeitsdatum gibt hingegen an, ab welchem Zeitpunkt lediglich mit möglichen Qualitätseinbußen zu rechnen ist – das Produkt darf aber unter bestimmten Bedingungen auch nach diesem Termin noch verkauft werden und ist meist noch einige Zeit genießbar!
„Schon abgelaufen“ oder noch gut?
Dennoch unterscheiden viele nicht zwischen beiden Angaben und sprechen pauschal von einem „Verfallsdatum“. Wie oft sagen wir undifferenziert mit einem kritischen Blick auf die Verpackung, etwas sei „schon abgelaufen“! Und so manch ein Joghurt, der noch Wochen später einwandfrei gewesen wäre, landet nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums ohne Not im Müll. Apropos Blick auf die Verpackung: Es geht auch noch absurder. Weil auf vielen Produkten mittlerweile auch das (aus Sicht des Verbrauchers immer in der Vergangenheit liegende) Herstellungs- oder Verpackungsdatum angegeben ist, dürfte es nicht selten vorkommen, dass dieses Datum bei flüchtigem Hinsehen als Verfallsdatum missinterpretiert und das Produkt vorzeitig entsorgt wird …
All diese Beobachtungen zeigen: Die Geschichte von der großen Lebensmittelverschwendung kann nicht einfach und schnell erzählt werden, und schon gar nicht kann sie in eine simple Schuldzuweisung münden. Zur ganzen Wahrheit zählt auch, dass auch nicht essbare Teile wie Schalen, Blätter oder Knochen als Lebensmittelabfälle gelten; ein Teil der Abfälle ist also gar nicht vermeidbar. Und natürlich geht die Gesundheit immer vor – niemand sollte sich den Magen verrenken, nur damit überfällige Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Zudem ist unsere Koch- und Esskultur zu berücksichtigen: Wir ernähren uns aus gutem Grund nicht nur aus einem großen Sack Reis, sondern wollen Vielfalt, Frische und Qualität – dabei fällt zwangsläufig mehr Abfall an. Und nur die wenigsten haben zu Hause ein Schwein im Stall stehen, das immer dann mit der Zunge schnalzt und „aufräumt“, wenn die Menschen etwas übrig lassen. Manche haben aber doch ein Schwein oder sogar zwei – und damit sind wir schon mitten in unserem ersten Erkundungsbesuch vor Ort.
Zwei Allesfresser mit großem Hunger
Familie Hartberger (Name auf eigenen Wunsch geändert) wohnt im ländlichen Raum und hält sich neben einigen Hühnern auch zwei Schweine, die mit viel Bewegungsfreiheit und einem eigenen Schlammloch ein recht glückliches Leben führen. Der gewaltige Hunger der beiden grunzenden Allesfresser brachte die Hartbergers auf die Idee, bei einem Supermarkt im nächstgrößeren Ort nachzufragen, ob sie dort regelmäßig Grünabfälle als Schweinefutter mitnehmen können. Mit etwas Beharrlichkeit gelangten sie zu einer individuellen Vereinbarung mit der Geschäftsführung: Einmal pro Woche dürfen sie, wenn neue Ware geliefert und alte aussortiert wird, zur Stelle sein.
Dann nämlich passiert Folgendes: Die hochwertigsten aussortierten Lebensmittelbestände gehen an karitative Einrichtungen wie die örtliche Tafel und kommen bedürftigen Bürgern zugute. Die weniger hochwertigen Teile hingegen, die ansonsten weggeworfen werden würden, stehen den Hartbergers zur kostenlosen Mitnahme zur Verfügung. Manchmal ist das nur eine Kiste, manchmal sind es zwei volle Einkaufswägen. Die Geschichte könnte an dieser Stelle mit dem dauerhaft gut und günstig aufgemotzten Speiseplan der beiden Borstentiere im Stall enden.
findet online zahlreiche Initiativen und Tipps zur besseren Verwertung von Lebensmitteln und zur Reduzierung von Abfällen:
- Vom 29. September bis zum 6. Oktober findet die Aktionswoche „Zu gut für die Tonne!“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) statt: www.zugutfuerdietonne.de
- Verschiedene Initiativen, Organisationen, Vereine und Unternehmen haben sich zum „Bündnis Lebensmittelrettung“ zusammengeschlossen: https://buendnislebensmittelrettung.de
- Themenseite des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft: www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/lebensmittelverschwendung
- Themenseite der Welthungerhilfe: www.welthungerhilfe.de/lebensmittelverschwendung
Hochwertige Lebensmittel werden aussortiert
Doch eigentlich beginnt sie hier erst richtig. Denn die Hartbergers konnten nicht fassen, was ihnen Woche für Woche als minderwertiger Ausschuss überlassen wurde: Kräuterbunde und Salatköpfe (mit etwas erschlafften Blättern), Kartoffeln und Zwiebeln (mit Trieben), Rüben (nicht mehr ultraknackig), Obst (mit Druckstellen oder leicht angerunzelter Haut), ganze Obstnetze (mit einer einzigen angeschimmelten Frucht), Süßigkeiten, Brote, Toastbrot, Kuchen und Kekse (kurz nach oder sogar noch vor dem Verfallsd…, pardon, dem Mindesthaltbarkeitsdatum!), Fertiggerichte aller Art, ganze Erdbeersteigen – und viele Topfblumen, die manchmal nur einen einzigen Mangel haben: Wassermangel! Auch wenn es lästig ist, immer wieder Angeschimmeltes eigenhändig aussortieren und nebenbei viel Verpackungsmüll entsorgen zu müssen – die Hartbergers haben eine Lösung gefunden, die letztlich nicht nur viele Lebensmittelabfälle vermeidet und ihren Tieren zugutekommt, sondern sogar den eigenen Haushalt bereichert. Neben der Freude über regelmäßig kostenloses Obst und schöne Blumen empfinden sie aber immer wieder auch Unverständnis darüber, wie viel qualitativ Gutes der Supermarkt abgibt – und was überhaupt alles angeboten wird im Einzelhandel. Anna Hartberger (37) berichtet: „Irre teure Produkte werden in Massen entsorgt. Manchmal sind wir richtig geschockt ob der Mengen, der Inhalte, des Mülls.“ Und fügt mit einem Kopfschütteln an: „Wir haben Blumen im Wert von tausenden Euro wieder hochgepäppelt – beziehungsweise manchmal einfach nur gegossen!“
Erkundungsbesuch im Supermarkt
An dieser Stelle wird es Zeit für einen weiteren Erkundungsbesuch: direkt im Supermarkt, und zwar bei einer anderen Kette als der, bei der die Hartbergers Kunden sind. Beim aufmerksamen Gang vorbei an Kühltheken fallen vor allem zwei Produkttypen auf: Da staunt man zunächst über leicht verderbliche Obst- und Gemüseerzeugnisse wie vorgeschnittene Äpfel und Wassermelonen, geschälte Minimöhren, Möhrenstifte (geraspelte Karotten), ja sogar aufgeschnittene Erdbeeren (im Plastikbecher).
Zweitens, da steht eine unüberschaubare Menge von Cremes, Pasten, Dips, Aufstrichen und Salaten im Angebot, von denen viele nur eine Lebensdauer von ein bis drei Tagen haben: Neben der reich bestückten offenen Salattheke gibt es nämlich auch abgepackten Kartoffel-, Eier-, Herings-, Krabben-, Thunfisch-, Nudel-, Kraut-, Fleisch- und Geflügelsalat, diverse Frischkäse (zum Beispiel mit Radieschen, Pistazien oder Tomate), Himbeerfruchtaufstrich, Auberginenpüree, Knoblauch-, Feta-, Avocado-, Hummus- und Harissa-Creme, Dillhappen, Gambas in Kokos-Ginger-Soße, Shrimps-cocktail Miami, Garnelencocktail mit Ei und Schnittlauch, Cocktail Marseille, Matjes in Kräuterdressing, Trüffelmayonnaise und vieles mehr. Nicht zu vergessen diverse verschiedene Varianten eines mehr oder weniger bayerischen Obatzdn (neuerdings auch „Kasbazi“ genannt)!
Sind wir zu bequem geworden?
Ein Verdacht drängt sich auf: Sind wir Verbraucher zu bequem geworden? Haben wir das selbstständige Zubereiten von Speisen verlernt? Es wird deutlich: Der Supermarkt ist längst nicht mehr der Ort, an dem es in erster Linie Grundnahrungsmittel zu kaufen gibt, die wir dann zu Hause kochen und kombinieren, weiterbearbeiten und verfeinern. Er ist zum Schlaraffenland einer völlig unüberschaubar gewordenen Palette von bereits bearbeiteten und essfertigen, hochspeziellen und exotischen, nach einzelnen Geschmacksrichtungen ausdifferenzierten Endprodukten geworden, oft sogar in mehrfacher Ausführung von verschiedenen Herstellern. Da liegt eine Schlussfolgerung nahe: Je breiter aufgefächert das Angebot, umso höher ist am Ende wohl auch der Müllberg.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal diese beiden Befunde: unnötig aussortierte und entsorgte Lebensmittel einerseits, eine riesige ausdifferenzierte Angebotspalette andererseits. Maximale Verfügbarkeit, aber nur vom optisch Besten! Wer sind nun die „Bösen“: die Produzenten, die in der Breite und in der Masse überproduzieren? Die Händler, die zu rigoros aussortieren und zu wenig erfinderisch sind, um auch nicht normgerechte Ware zu verkaufen? Die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher, die einerseits zu hohe Ansprüche an frische Ware stellen und bereits zwei Tage altes Brot wegwerfen, andererseits aber aufwendig hergestellte Spezialartikel und über die halbe Welt hertransportiertes Superfood nachfragen – und natürlich erwarten, dass auch am Samstagabend kurz vor Ladenschluss alles verfügbar ist?
Es braucht Sensibilisierung und Bewusstsein
Die Geschichte endet nicht mit einer abschließenden Antwort. Um ein komplexes Problem dieser Größenordnung anzupacken, hinter dem ein ganzes Wirtschaftsmodell, eine ganze Industrie, ein Lebensmittelrecht und weltweite Handelsverflechtungen stehen, braucht es erst einmal Sensibilisierung und Bewusstsein. Und das Verständnis, dass jede und jeder Einzelne das System ein klein wenig beeinflussen kann. Der eine könnte auf die Idee kommen, einen Kochkurs zu belegen, in dem man lernt, mit einfachsten Zutaten Köstliches zu zaubern. Die andere wird begreifen, dass sie sich in der Hast des Alltags einfach nur etwas mehr Zeit beim Einkaufen und Zubereiten nehmen müsste und dass ein besseres „Kühl- und Lagerungsmanagement“ viele Verluste vermeiden hilft. Wieder ein anderer wird sich bewusst machen, dass die eine oder andere persönliche Wegwerfroutine einfach nicht nötig ist, sondern nur auf Gewohnheit und irrationalen Befindlichkeiten fußt. Und auch die Politik könnte sich des Problems entschlossener annehmen.
Die große Ernährungs- und Nachhaltigkeitswende wird nicht über Nacht kommen. Aber sie könnte in vielen Haushalten mit der schlichten Erkenntnis beginnen, dass Essen ein wertvolles Geschenk ist und dass ein guter Umgang mit Lebensmitteln unmittelbar zu einem guten Leben beiträgt. Das geht sogar ohne eigenes Schwein im Stall.