Kultur und Wissen
30.01.2025

Der Fluch des russischen Imperiums

Nicht erst seit dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 ist Russland häufiges Thema in deutschen Debatten. Doch über die historischen Hintergründe des heutigen Putinismus wissen nur wenige Bescheid. Ein renommierter Historiker hat nun ein monumentales Werk über die russische Zarenherrschaft geschrieben.

Gemälde aus einem Album über die sibirischen Kosaken, das dem letzten Zaren, Nikolaus II., zum Geschenk gemacht wurde. (Bildausschnitt) Gemälde aus einem Album über die sibirischen Kosaken, das dem letzten Zaren, Nikolaus II., zum Geschenk gemacht wurde. (Bildausschnitt) Foto: © imago/Heritage Images

Wer farbige, spannende Geschichtserzählung und anspruchsvolle Geschichtsdeutung sucht, wird beim jüngsten Riesenwälzer von Jörg Baberowski fündig („Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich“. C.H. Beck Verlag, München, 1.406 Seiten). Baberowski erzählt eindrücklich und lebendig vom Untergang der russischen Zarenherrschaft, von den unzähligen vertanen Chancen, der Zaghaftigkeit und politischen Naivität des letzten Zaren Nikolai II., aber auch von klugen Politikern wie Witte und Stolypin, die das russische Riesenreich zu reformieren versuchten. Wenn man Seite um Seite liest, wie sich die Katastrophe aufbaute, möchte man fast verzweifeln.

Doch trotz allem erscheint es nicht absolut unausweichlich, dass die Zarenherrschaft irgendwann abtreten musste – so reich an interessanten Wendungen ist die Geschichte, die Baberowski erzählt. Was ihn vor allem motiviert, sind jedoch nicht die bunten und düsteren Details der untergehenden Epoche der Romanovs, die im Putin-Russland neuen, falschen Glanz zwischen Familien-Kitsch und großrussischem Narrativ erhalten hat. Baberowski interessiert die Frage, wie die Romanov-Herrschaft auf die wachsende liberale und sozialistische Opposition reagierte.


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Es scheint sich nicht viel verändert zu haben

Die Parallelen zur aktuellen russischen Krise zieht der Leser von selbst. Wenn der Autor etwa die Herrschaft der Großfürsten im 16. Jahrhundert, die Armut des Volkes, die Repression und die Weite des Landes beschreibt, denkt man unwillkürlich an das aktuelle Russland, auch bei den Worten Joseph Roths, der meinte, „wer nicht groß genug ist zu regieren, wird hier, vor lauter Weite, ein Tyrann“. Es scheint sich im russischen Riesenreich bis heute nicht viel verändert zu haben. Doch vor dem Hintergrund von Bürgerkrieg und kommunistischer Diktatur, die auf das Ende der Romanovs folgten, ist Baberowski weit davon entfernt, sich ein Auseinanderbrechen der heutigen Russländischen Föderation zu wünschen, wie das russische Oppositionelle tun.

Der letzte russische Zar, Nikolaus II. (salutierend), bei einer Truppeninspektion zu Beginn des Ersten Weltkriegs Der letzte russische Zar, Nikolaus II. (salutierend), bei einer Truppeninspektion zu Beginn des Ersten Weltkriegs Foto: © imago/Gemini Collection

2014 sprach sich Baberowski für eine Teilung der Ukraine aus, um den Krieg, der auch ihn überrascht hatte, zu beenden, und die weltpolitischen Gefahren einer weiteren Eskalation des Krieges zu bannen. So ungerecht und repressiv die aktuelle russische Herrschaft auch ist, würde sie doch, wie damals vor mehr als hundert Jahren, gewaltbereite Akteure in Schach halten. Doch jede noch so stabil erscheinende Ordnung kann sich in Minuten auflösen, weil ein Lenin den günstigen Augenblick ergriff, um die Macht an sich zu reißen. Putin könnte heute wie damals der Zar an den imperialen, die eigenen Kräfte überschätzenden Ambitionen und den inneren Defiziten seines Riesenreiches scheitern.

Der Ukraine-Krieg als Anfang vom Ende?

Martin Schulze-Wessel hat den „Fluch des Imperiums“ als „Irrweg in der russischen Geschichte“ bezeichnet. Der Ukraine-Krieg könnte wie der Erste Weltkrieg als treibender Motor für den Zusammenbruch eines Systems dienen, das nur noch durch innere Gewalt und außenpolitische Aggression aufrechterhalten wird.

Nikolai II. hätte kluge Köpfe in höchsten Funktionen gehabt, ignorierte sie aber. Er regierte immer weniger über ein Reich, das er kaum kannte, das aber ein „Ort der Möglichkeiten“ gewesen wäre, wenn sie der Zar ergriffen hätte. Die Zarenherrschaft, die ewig galt, erwies sich als „sterblicher Gott“, wie Thomas Hobbes den Leviathan nannte, weil sich Stabilität und Unerschütterlichkeit als Illusion erwiesen.

(Marc Stegherr, Slavist an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Diakon im Erzbistum München und Freising)