Alles über Bayerns 5.886 Pflanzen
In der kürzlich erschienenen „Flora von Bayern“ sind Tausende heimische Pflanzen beschrieben. Herausgeber Lenz Meierott erzählt im Interview von kuriosen Fundorten, aussterbenden Arten, 128 verschiedenen Brombeeren und der vielleicht geheimnisvollsten Pflanze Bayerns, von der nur ein einziges Exemplar bekannt ist.

Joachim Burghardt: Herr Meierott, die „Flora von Bayern“ umfasst 2.880 Seiten in vier Bänden und wiegt über 13 Kilogramm. Ist das Ihr Lebenswerk?
MEIEROTT:: Das könnte man vielleicht so sehen. Aber die „Flora von Bayern“ ist ein Gemeinschaftswerk, an dem mehrere Herausgeber, mehr als 50 Autoren und etwa 200 Kartierer und Kartiererinnen jahrelang mitgearbeitet haben. Allen gebührt mein herzlicher Dank.
Burghardt: Wie lief die Kartierungsarbeit konkret ab?
MEIEROTT: Es wird nach Landkarte ein bestimmtes Gebiet ausgewählt, zum Beispiel eine Fläche von 6 mal 5,5 Kilometern. Das Gebiet wird mindestens dreimal begangen, möglichst im Frühjahr, Sommer und Herbst. Dabei werden alle vorhandenen Vegetationstypen aufgesucht: Wald, Wirtschafts- und Magerrasen, Felsfluren, Teiche, Flussufer, Gräben, Äcker, Straßenränder, Unkrautfluren in Dörfern und Städten. Die dabei beobachteten Pflanzenarten werden in einer Anstreichliste notiert, die Liste dann nach München zur Prüfung und Auswertung geschickt. Dem Kartierenden unbekannte Arten sollten als sogenannter Herbarbeleg gesammelt und Spezialisten zur Bestimmung vorgelegt werden.
Burghardt: In der „Flora von Bayern“ sind nun alle 5.886 dokumentierten Pflanzensippen des Freistaats beschrieben. Wie vollständig ist diese Sammlung? Oder anders gefragt: Von wie vielen unentdeckten Arten gehen Sie aus?
MEIEROTT: Die Zahl von 5.886 Pflanzensippen gibt den derzeitigen Kenntnisstand wieder. Da Bayern seit mindestens 120 Jahren in allen Regionen von Botanikern und botanisch Interessierten durchstreift wird, dürfte diese Zahl annähernd vollständig sein. Die Zahl kann sich aber erhöhen, wenn in Zukunft zum Beispiel einige Brombeeren, Habichtskräuter oder Löwenzahn-Sippen als bisher unbekannt oder in einem verfeinerten Klassifikationssystem als eigenständig und für die Wissenschaft neu beschrieben werden. Dann ist wahrscheinlich auch eine Zahl von 6.000 zu erreichen. Und wir wissen ja nicht, wie Bayern und seine Flora in 100 Jahren aussehen…
Burghardt: Apropos Brombeeren, unter den bayerischen Pflanzenarten sind auch mehrere, die nach Ihnen benannt wurden, zum Beispiel Meierotts Brombeere (Rubus meierottii). Was bedeutet Ihnen so eine „Verewigung“? Ist das die größte erreichbare Trophäe, quasi der Oscar der Botanik?
MEIEROTT: Man freut sich, aber so groß ist die Trophäe nicht (und ewig schon gar nicht, weil Namen geändert oder eingezogen werden können). Es gibt Tausende von Namen, die Botanikern gewidmet sind. Früher gab es auch Autoren, die Pflanzen selbst nach sich benannt haben; das ist heute aber glücklicherweise verpönt.
Burghardt: Meierotts Brombeere ist eine von mehreren hundert Arten in der Gattung Rubus. Anders gesagt: Es gibt Hunderte von Brombeerenarten, allein die „Flora von Bayern“ listet 128 verschiedene auf. Wie kann man sich 128 Brombeerarten in Bayern vorstellen? Haben sie alle essbare Früchte?
MEIEROTT: Die allermeisten Brombeerarten sind sich recht ähnlich und können nur von Spezialisten, die sich jahrzehntelang damit beschäftigt haben, sicher unterschieden werden. Ja, sie haben alle essbare Früchte, auch wenn einige Arten nicht gerade lecker schmecken. Die 128 Brombeerarten nach dem Geschmack der Früchte zu unterscheiden, hat noch niemand versucht, es dürfte auch kaum gelingen.
Burghardt: Oft sind in der „Flora von Bayern“ sehr konkrete Orte angegeben, an denen eine Art nachgewiesen wurde. Das Frischgrüne Zyperngras (Cyperus eragrostis) beispielsweise wurde unter anderem „zahlreich in Pflasterfugen nahe einer Gärtnerei“ in Mühlhausen bei Höchstadt an der Aisch sowie in der Bahnunterführung der Heerstraße in München-Obermenzing gefunden. Was gibt es noch für kuriose Fundorte einzelner Pflanzen?
MEIEROTT: Manche Pflanzen sind sehr genügsam in der Auswahl ihrer Wuchsorte, das können sein: durch Sommerhitze aufgesprungene Betonplatten der Autobahnen, Jungsträucher und -bäume im Dach einer nicht oder schlecht renovierten Kirche, kaum noch belichtete Innenmauern von Dorfbrunnen …
Burghardt: Werfen wir einen Blick auf die„rote Liste“: Wie viele Arten sind in Bayern gefährdet?
MEIEROTT: Nach der Ende des letzten Jahres erschienenen neuen „Roten Liste der Farn- und Blütenpflanzen Bayerns“ sind 1.136 Sippen aufgeführt, die einen der folgenden Gefährdungsstatus haben: 0 erloschen/verschollen, 1 vom Aussterben bedroht, 2 stark gefährdet, 3 gefährdet, G Gefährdung anzunehmen. Dazu kommen 336 weitere Sippen mit Einstufung in der „Vorwarnliste“.
Burghardt: Sie listen in der „Flora von Bayern“ auch einige ausgestorbene oder „verschollene“ Pflanzen auf, darunter mehrere, die noch vor 25 Jahren nachgewiesen waren. Aus welchen Gründen sterben Pflanzenarten hierzulande aus?
MEIEROTT: Da gibt es zahlreiche Gründe und Faktoren: Anreicherung der Böden durch Stickstoff, Ausbringen von Pestiziden, Ausweitung der industriellen Landwirtschaft, Entwässerung von Mooren, Düngung oder Umbrechen von Magerrasen, Austrocknung von Nass- und Feucht-Standorten, Überbauung und andere mehr. Aus dem 19. Jahrhundert sind Fälle bekannt, bei denen seltene Arten durch übermäßiges Sammeln von Herbarbelegen erloschen sind; in Briefen wird zum Beispiel vom Einsammeln von 100 Belegen berichtet. Auch heute noch sind einige Arten durch Sammelaktivitäten stark bedroht.
Burghardt: Gibt es noch einen bayerischen Urwald oder andere Formen natürlicher Vegetation?
MEIEROTT: In Bayern gibt es keinen Urwald mehr, der von jeher von Nutzung und jeglichem forstlichen Einfluss frei wäre. Auch Bannwälder und „Naturwaldreservate“ sind keine Urwälder mehr. Natürliche, vom Menschen unbeeinflusste Vegetation ist in Bayern nur mehr in wenig besuchten Hochlagen der Alpen zu finden, aber auch hier leider nicht mehr überall und in stetem Rückgang.
Burghardt: Wie wirkt sich der Klimawandel auf die bayerische Pflanzenwelt aus?
MEIEROTT: Der Klimawandel hat negative Auswirkungen, wenn zum Beispiel Sumpf- und Moorstandorte austrocknen oder wenn während des Wachstums- und Blühprozesses längere Trockenphasen eintreten. Auch können Pflanzen der Hochlagen der Alpen Probleme bekommen, wenn sich die von ihnen besiedelte klimatische Höhenstufe nach oben verlagert, die Berggipfel aber nicht höher werden. Er hat aber auch positive Auswirkungen, indem sich zum Beispiel wärmeliebende einjährige Pflanzenarten ausbreiten oder indem aus subtropischen und tropischen Regionen eingeschleppte Arten begünstigt werden. Für Gartenbesitzer mag auch erfreulich sein, dass Frosttage und extrem tiefe Temperaturen seltener werden und deswegen einige früher als nicht winterhart geltende Stauden und Gehölze ausgepflanzt werden können.
Burghardt: Einige Arten sind endemisch, kommen weltweit also nur in Bayern vor. Können Sie uns hiervon ein paar vorstellen?
MEIEROTT: Da wäre zum Beispiel Armeria purpurea (Purpur-Grasnelke), ein Relikt aus der Eiszeit, das nur im Benninger Ried bei Memmingen vorkommt. Oder Sabulina verna (Frühlings-Miere), ein hübsches Nelkengewächs mit vielen kleinen weißen Blüten, das noch einige wenige Felsfluren der Südlichen Frankenalb ziert. Schließlich noch Cochlearia bavarica (Bayerisches Löffelkraut), eine seltene Pflanze von Kalkquell-Standorten in Schwaben und Oberbayern, die auch ihre Herkunft Bayern im Namen trägt.
Burghardt: Gibt es eine Art, von der Sie sagen, das ist für Sie die eigenartigste oder geheimnisvollste Pflanze Bayerns?
MEIEROTT: Mir fallen da zwei ein: Juncus stygius (Moor-Binse),der in Bayern letztmals 1995 bestätigt wurde und von dem wir – trotz vielfacher Nachsuche – nicht wissen, ob er sich noch irgendwo versteckt hält. Der Name „stygius“ geht auf den Styx, den Fluss als Tor zur Unterwelt in der griechischen Mythologie, zurück. Und von Daphne blagayana (Königs-Seidelbast), einer attraktiven Art mit großen weißen Blüten, gibt es nur ein einziges Exemplar auf einem sehr entlegenen Grat in den Chiemgauer Alpen, und wir wissen nicht, ob es dort heimisch ist oder wie es da hingekommen ist. Hat es jemand „angesalbt“, also unerlaubt angepflanzt, oder ist es durch dort rastende Zugvögel eingebracht worden?
Burghardt: Von der geheimnisvollen Pflanze mit nur einem Exemplar zurück zum großen Ganzen: Ursprünglich sind Sie Musikwissenschaftler, Sie wurden erst nebenberuflich auch zum Botaniker. Sehen Sie Gemeinsamkeiten oder Wechselwirkungen zwischen Ihren beiden Interessensgebieten, der Musik und der Pflanzenwelt?
MEIEROTT: Carl von Linné hat die Botanik eine „Scientia amabilis“ (liebenswerte Wissenschaft) genannt, eine Wissenschaft, die sich mit der Vielfalt und Schönheit von Pflanzen beschäftigt. Auch die Musik ist (meist) liebenswert. Beide sind eng mit dem Begriff Ästhetik verbunden. Man muss aber zugeben, dass die derzeitige wissenschaftliche Botanik mit molekular-genetischen Sequenzierungen (zum Beispiel der Bestimmung der DNA einer Pflanze) und Berechnungen von Pflanzenverbreitungen mit Computer-Modellen nicht mehr viel mit Ästhetik zu tun hat ...
Burghardt: Naturwissenschaftler werden oft zur Vereinbarkeit von Glauben und Wissenschaft oder zur Existenz Gottes befragt. Dem schließen wir uns gern an: Hat die Beschäftigung mit der Pflanzenwelt für Sie auch eine spirituelle Dimension? Entdecken Sie in der biologischen Systematik der Arten oder im Aussehen einer einzelnen Pflanze gar die Handschrift Gottes?
MEIEROTT: Es gibt Orte, an denen man innehält und die Erhabenheit und Vielfalt der Natur verspürt. Andererseits wissen wir, dass die Kirche einst Probleme mit der Evolutionslehre und den Theorien Darwins hatte. Jedenfalls müssen sich Botanik und Glaube nicht ausschließen: Vor wenigen Jahren hat die Arbeitsgemeinschaft Flora Nordschwaben eine „Flora von Nordschwaben“ veröffentlicht, auf deren Innentitel zahlreiche Samen und Früchte einheimischer Pflanzen abgebildet waren; beigefügt war ein Text aus dem biblischen Schöpfungsbericht: „Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist auf der Erde …“ (Gen 1,11). Das hat mir gut gefallen.