Kultur und Wissen
15.11.2024

Smartphonesüchtig und handykrank

Daniel Wolff ist Digitaltrainer und Autor des aktuellen Bestsellers „Allein mit dem Handy – So schützen wir unsere Kinder“. Im Interview erzählt er, wie Kinder auf ihrem Handy mit Gewalt, Pornografie und Videosucht konfrontiert sind und wie ihnen die unkontrollierte und unbegleitete Nutzung ihrer Smartphones großen Schaden zufügt.

Viele Eltern ahnen nicht, was ihre Kinder mit dem Smartphone so alles erleben. Viele Eltern ahnen nicht, was ihre Kinder mit dem Smartphone so alles erleben. Foto: © imago/Pond5 Images

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Kinder und Jugendliche ihre Smartphones übermäßig viel nutzen und dass sie dabei auch Gefährliches sehen. Geben Sie unseren Lesern eine kleine Kostprobe, worum es da geht!

Wenn ich zum Beispiel in Grundschulen die Kinder frage: „Wer von euch hat schon einmal heimlich nachts ein Smartphone mit ins Bett genommen?“, melden sich so gut wie alle. Und wenn man dann fragt, wie lang sie nachts am Handy sind, obwohl am nächsten Tag Schule ist, fallen manche Lehrkräfte regelrecht vom Stuhl, wenn sie die Antworten hören. Und inhaltlich: Fragen Sie mal Ihre Kinder, ob sie schon einmal auf Youtube eine Werbung gesehen haben für einen gruseligen Film. Da werden die Kinder, wenn sie ehrlich sind, ziemlich sicher Ja sagen. Das ist eine Sache, die Eltern oft nicht wissen: Youtube ist, wenn man die Nutzungsbedingungen genau liest, ab 16 Jahren erlaubt, deshalb wird dort auch Werbung für Filme ab 16 ausgespielt – und die sind ziemlich krass. Selbst allerkleinste Kinder bekommen das zu Gesicht, ob sie es wollen oder nicht. Sie sind dann in der Regel schockiert, melden es ihren Eltern aber nicht zurück – einfach aus der Angst vor einem Handyverbot.

Als Folgen der unkontrollierten Handynutzung nennen Sie unter anderem Suchterscheinungen, Augen- und Haltungsschäden, Konzentrationsschwäche und Empathielosigkeit – verlieren wir gerade eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen?

Wenn wir nicht aufpassen, könnte das so eintreten. Wir haben ja jetzt schon mit der sogenannten Gen Z (die zwischen 1995 und 2010 geborene Generation; Anm. d. Red.) unsere Erfahrungen gemacht; den Menschen also, die ebenfalls schon Smartphones hatten und heute oft schon erwachsen sind. Da zeigt sich, auch in der wissenschaftlichen Literatur, einiges an negativen Folgen. Jetzt allerdings bekommen die Kinder schon viel früher Smartphones als diese Generation: schon in der Grundschule; nicht alle, aber viele. Ich glaube, dass wir einen großen Teil unserer Jugend in diesem Sinne tatsächlich verlieren könnten, wenn die Kinder in sehr jungem Alter schon Inhalte sehen, die eigentlich nur für Erwachsene gedacht sind. Viele Kinder verbringen heute auch mehr Zeit im Internet als in der Schule. Und der Einfluss des Internet ist mittlerweile so stark geworden, dass er den der Schulen übertrifft.


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Ganz einfach gefragt: Wie konnte es so weit kommen? Wer trägt die Verantwortung?

Die Eltern! Punkt. Da bin ich völlig eindeutig. Es sind nicht nur die Konzerne, es sind nicht nur die Schulen. Im Gegenteil: Die Eltern sind zu 100 Prozent dafür verantwortlich, was ihre Kinder in ihrer Freizeit auf den Servern von US-Unternehmen – oder im Falle von TikTok auf den Servern von chinesischen Unternehmen – tun. Wer denn sonst? Eltern sind medienerziehungsberechtigt, aber auch medienerziehungsverpflichtet. Aber mehr als die Hälfte der Eltern ist bislang nicht willens, sich dieser Thematik vernünftig anzunehmen – was man allein daran schon erkennt, dass mehr als die Hälfte der Kinder das Smartphone mit ins Bett nehmen darf. 

Ist also der Hauptfehler, den Eltern machen, dass sie sich nicht interessieren? Oder sind sie überfordert?

Ich glaube, beides. Aber vor allem unterschätzen Eltern die Problematik. Viele haben ihr eigenes Smartphone bekommen, als sie bereits erwachsen waren, und haben deshalb die kindliche Perspektive auf das Gerät selbst nicht erlebt. Als Erwachsener nutzt man das Smartphone und sogar dieselben Apps einfach anders. Kinder dagegen sind Kinder: Sie wollen Spaß, sind neugierig. Und wenn etwas verboten ist, finden sie es besonders spannend. Mit einem Smartphone kann man alles sehen, was es im Internet gibt, absolut alles. Trotzdem ist es für Eltern heute völlig verblüffend, wenn sie feststellen, dass ihre Kinder schon mit zehn Jahren pornografische Inhalte gesehen haben. Das ist den meisten Eltern überhaupt nicht bekannt, aber das Durchschnittsalter beim Kontakt zu Hardcore-Pornografie liegt zwischen zehn und elf Jahren! Weil die Eltern diese Erfahrung selbst aber nicht gemacht haben, können sie sich das nicht vorstellen.

Bemüht sich die Politik angemessen und ernsthaft um den Schutz unserer Kinder?

Nein. Es ist lachhaft. Man gaukelt den Eltern vor, es gebe Jugendschutz im Internet. Den gibt es nicht. Es gibt absolut keinen funktionierenden Jugendschutz im Internet, außer einen: anwesende Eltern. Zum Beispiel die Logos für Alterskennzeichnung. Da gibt es im Internet die sogenannten USK-Logos („Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“; Anm. d. Red.). Diese sind in der Praxis aber völlig wirkungslos, da die Spielehersteller sich diese Logos oft selbst geben können. Logos werden falsch oder irreführend verwendet – und in den Nutzungsbedingungen stehen dann wieder ganz andere Altersangaben drin. Das ist ein völlig unhaltbarer Zustand, die gesamte digitale Industrie ist unreguliert. Die machen zu Lasten der Kinder alles, was möglich ist, um Geld zu verdienen. Die Kinder haben keine Lobby im Internet. Solange die Eltern noch nicht verstanden haben, worum es geht, wird sich auch in der Politik nichts bewegen, daher müssen wir bei den Eltern beginnen.

Haben zumindest Pädagogen – Schulleitungen, Lehrkräfte – die Dimension des Problems erkannt?

Unfreiwillig erkennen sie das immer mehr. Denn Schulleitungen bekommen fast alle früher oder später Nacktbilder von einigen ihrer Schülerinnen und Schüler auf den Tisch. Und dann fallen alle aus allen Wolken: die Eltern der betroffenen Kinder, der Eltern derer, die die Bilder herumgeschickt haben, und die beteiligten Lehrkräfte. Wir müssen allerdings bereits vorher präventiv ansetzen. Lehrer sind von der Problematik übrigens sowieso massenhaft betroffen: durch den Schlafmangel der Kinder. Sie haben morgen oft eine „breiartige Schülermasse“ vor sich sitzen, von der die Hälfte gar nicht richtig geschlafen hat und überhaupt nicht in der Lage ist, am Unterricht teilzunehmen. Da merken die Lehrkräfte natürlich massiv, dass etwas nicht stimmt. Kinder, die ihr Smartphone mit ins Bett nehmen, sind tendenziell fahriger, unkonzentrierter und aggressiver. Außerdem haben sie den Kopf voll von stundenlang TikTok und Youtube in der vergangenen Nacht – da kann man nichts mehr lernen, und man kann auch nicht freundlich zu seinen Mitschülern sein. Hier ist tatsächlich eine Katastrophe unterwegs und wenn wir nur eine einzige Sache besser machen können, bräuchten wir sofort eine nationale Kampagne „Smartphone raus aus dem Kinderbett!“. Raus und aus!

Sie beschreiben eine Entwicklung hin zu immer früherer Mediennutzung mit immer härteren Inhalten und drastischeren Folgen. Ist eigentlich das Ende der Fahnenstange allmählich erreicht oder rasen wir als Gesellschaft weiterhin ungebremst auf einen digitalen Abgrund zu?

Ich mache meinen Job an den Schulen jetzt schon acht Jahre lang, und leider muss ich sagen: Die Tendenz geht weiterhin zu immer jüngeren Kindern. Laut einer aktuellen Studie besitzen 10 Prozent der deutschen Kleinkinder von zwei bis fünf Jahren ein eigenes Smartphone, 20 Prozent aller Kleinkinder besitzen ein eigenes Tablet. Diese Kinder tun mir jetzt schon leid, deren Eltern haben offenbar keinerlei Gespür für die Thematik.

Kürzlich war zu lesen, dass Australien die Nutzung von Social-Media-Plattformen erst ab 16 Jahren erlauben will. Was halten Sie von der Idee, auch in Deutschland eine derartige gesetzliche Regelung einzuführen?

Ich bin absolut dafür. Aber entscheidend ist die Umsetzung – und die technische Machbarkeit. Man kann zum Beispiel mit dem Smartphone seinen Reisepass auslesen und so sein Alter wirksam verifizieren. Das heißt, man könnte, wenn man den politischen Willen aufbrächte, Social-Media-Anbieter zwingen, das Alter der Teilnehmer mit technischen Mitteln zu beweisen. Aber dazu gibt es keinen Willen, weil das die Profite schmälert. Jugendschutz steht immer diametral zu Profitinteressen und wir haben momentan in Deutschland noch gar keine Diskussion zu dem Thema. Ich befürworte eine Social-Media-Altersgrenze ab 16 ausdrücklich, weil ich weiß, dass etwa die Hälfte der Eltern ihre Kinder weder vorbereitet noch begleitet. Und ich bekomme täglich erzählt, wie unglaublich krasse Inhalte die Kinder zu Gesicht bekommen.

Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz (KI) bei der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen?

Eine viel größere, als Eltern denken. Die meisten glauben, die neue Generation von KI, das sei vor allem ChatGPT & Co. Für Kinder ist hingegen Snapchat (ein Messengerdienst zum Austausch von Texten, Fotos und Videos; Anm. d. Red.) eines der meistverbreiteten KI-Tools. Snapchat hat im März 2023 einen KI-Chatbot (ein Computerprogramm, das mittels künstlicher Intelligenz einen menschlichen Gesprächspartner simuliert; Anm. d. Red.) an alle Nutzer weltweit ausgespielt, die dann plötzlich einen nicht löschbaren neuen Kontakt in ihren Snapchat-Kontakten hatten: „My AI“. Der wurde vorab nicht auf Ungefährlichkeit überprüft, und das ist ein absoluter Skandal, denn dieser Chatbot ist nicht „vertraut“ mit der Problematik des Cybergroomings (Online-Kontaktaufnahme mit Minderjährigen mit sexuellen Absichten; Anm. d. Red.). Wenn zum Beispiel ein Kind reinschreibt: „Ich bin 12 und habe jetzt im Internet einen Freund kennengelernt, der 18 Jahre älter ist als ich“, dann gibt der Chatbot „My AI“ Tipps, wie das Kind den Freund treffen kann. Das ist schauerlich und gefährlich, denn ich weiß, wie gern sich Kinder mit virtuellen Charakteren unterhalten. Das ist für die meisten Erwachsenen nicht vorstellbar.

Gibt es noch mehr Beispiele aus der Welt der KI?

Seit Neuestem ist auch eine App namens „Character AI“ sehr beliebt unter Schülern, damit kann man sich virtuelle Freunde zusammenstellen – ohne Angst, von denen eine Abfuhr zu bekommen. Manche Kinder verlieren sich regelrecht darin. Es gibt auch von der KI generierte virtuelle Influencer, die schon so hohe Follower-Zahlen haben, dass jemand damit Geld verdient. Unsere Kinder haben also bereits jetzt ganz massiv Kontakt zu künstlichen Intelligenzen und zu darauf basierenden Produkten. Für mich ist die KI der absolut letzte, entscheidende Weckruf: Wenn wir uns jetzt nicht um unsere Kinder bemühen, verlieren wir sie.

Welche Tipps geben Sie Eltern, die sofort etwas gegen eine schädliche Handynutzung ihrer Kinder unternehmen möchten?

Erstens: Kein Smartphone ins Bett! Und zwar weder für Kinder noch für Eltern – da ist der Haken! Also auch an die Eltern die Bitte: Nicht das Smartphone mit ins Bett nehmen, sonst sehen das die Kinder und machen das nach. Man kann im Wohnzimmer eine Familienladestation einrichten, an der nachts alle Handys hängen; dazu gilt die Regel, dass niemand in der Familie abends nach dem Zähneputzen noch digitale Geräte benutzt, ebensowenig morgens vor dem Zähneputzen. Zweiter Tipp: Auf die Internetseite mediennutzungsvertrag.de schauen und sich ein paar Regeln heraussuchen, die einem persönlich zusagen – diese Regeln kann man dann gemeinsam mit dem Kind ein Jahr lang befolgen. Das hat den großen Vorteil, dass alle wissen, woran sie sind. Jede Minute, die man sich damit befasst, erspart einem später stundenlang Streit mit den Kindern.

Was können Eltern noch tun?

Auf Tuchfühlung mit dem Kind bleiben. Liebe Eltern, interessieren Sie sich für alles, was Ihr Kind im Internet tut! Installieren Sie nahezu jede App, die Ihr Kind benutzt, um diese zu kennen. Und bevor Ihr Kind irgendeine App installiert, sollten Sie sich im Internet schlaumachen, was das überhaupt für eine App ist. Besonders bei kleineren Kindern ist – als vierter Tipp – auch der Einsatz von Kinderschutzsoftware wie Google Family Link oder Apple Bildschirmzeit absolut notwendig. Auch wenn Sie früher oder später von Ihrem eigenen Kind gehackt werden – für die Zeiten, in denen Ihr Kind allein ist, ist der Einsatz unverzichtbar.

Zum Schluss ein Service für diejenigen unserer Leser, die selbst Enkel haben. Als Großeltern verstehen sie meist noch weniger als die Eltern, was in der digitalen Welt alles passiert, und können in der Regel selbst keine Entscheidungen in Bezug auf ihre Enkel treffen. Was können sie trotzdem tun, um mitzuhelfen?

Großeltern können Eltern im Alltag entlasten und öfter mal mit den Kindern etwas unternehmen. Ein Grund für den hohen Medienkonsum der Kinder ist ja, dass Eltern oft überlastet sind und ihrem Kind manchmal einfach ein digitales Gerät in die Hand drücken, damit sie ruhig sind. Großeltern können mit ihren Enkeln aber auch gemeinsam das Internet entdecken – im positiven Sinne. Eine Familiengruppe bei einem Messengerdienst, in der auch die Großeltern sind, ist wunderbar, denn dadurch wissen Großeltern so viel aus dem Leben ihrer Enkel wie noch nie und umgekehrt. Großeltern tun gut daran, mit ihren Enkeln auch digital verknüpft zu sein. Lassen Sie sich mal von Ihren Enkeln die wichtigsten Emojis (Smileys und ähnliche Bildzeichen, die man in der Online-Kommunikation einsetzt; Anm. d. Red.) erklären – das macht beiden Spaß. Also: den Kindern digitalfreie Zeiten und Aktivitäten ermöglichen, aber auch mit ihnen zusammen die schönen Seiten des Internets entdecken!

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Joachim Burghardt
Artikel von Joachim Burghardt
Redakteur
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