Erziehung
Unsere Kinder leben in zwei Welten
Nächtelanges Video-Schauen, Zocken mit Geld, Pornos und Mobbing – was Kinder mit ihren Smartphones heimlich alles erleben, ist unfassbar. Welche Rolle die Eltern in dieser Misere spielen und was nun zu tun ist, kommentiert [inne]halten-Redakteur Joachim Burghardt.
Was der Digitaltrainer Daniel Wolff in seinem aktuellen Bestseller „Allein mit dem Handy“ schildert und kürzlich auch im exklusiven Interview mit [inne]halten.de beschrieben hat, ist erschütternd. Kinder verbringen unbeaufsichtigt und unvorbereitet viel zu viel Zeit im Internet. Sie geraten in die Abhängigkeit sozialer Netzwerke, werden zum Ziel von Pädokriminellen und sehen Dinge, die nicht einmal für Erwachsene zu empfehlen sind. Sie kommen dabei mitunter in große seelische Bedrängnis und sind in ihrer Naivität und Schutzlosigkeit mit der Brutalität der Online-Welt überfordert. Nicht alle schaffen es, jemandem ihr Herz auszuschütten und Hilfe zuzulassen – auch weil sie Angst vor einem Handyverbot haben!
Liebe Leserinnen und Leser, was sind Ihre spontanen Gefühle, wenn Sie erfahren, dass schon Zehnjährige mit Horror- und Pornofilmsequenzen konfrontiert sind, dass Zwölfjährige nächtelang heimlich Videos schauen und ohne Schlaf in die Schule torkeln, dass 14-Jährige zunehmend spielsüchtig und empathielos sind? Und dass viele Eltern von alledem wenig bis nichts mitbekommen? Das ist natürlich nicht in allen Familien so – kommt aber offenbar viel öfter vor, als wir uns vorstellen können und wollen.
Mobbing und Bilderflut im Klassenchat
Und noch weitere potenzielle Gefahren drohen: Bei sogenannten In-Game-Käufen können Kinder in einem Computerspiel echtes Geld bezahlen, um im virtuellen Spielgeschehen stärkere Waffen zu erhalten. Und in Whatsapp-Klassenchats erfahren sie teils schlimmes Mobbing oder bekommen manchmal in nur einer einzigen Nacht über tausend (!) Nachrichten und Bilder zugeschickt. Die Liste ließe sich noch fortsetzen.
All das bildet wohlgemerkt einen Stand ab, der schon vor Jahren erreicht war. Heute ist die Lage leider noch dramatischer, weil durch die künstliche Intelligenz mittlerweile noch mächtigere Kräfte entfesselt sind. Die von Wolff beschriebenen KI-Chatbots, mit denen man wie mit einem echten Menschen plaudern kann, ermöglichen so tiefgehende (Pseudo-)Bindungen, dass Jugendliche nicht mehr damit klarkommen: Kürzlich wurde der Suizid eines 14-Jährigen in Florida bekannt, der sich in eine virtuelle „Person“ verliebt hatte.
Leugnen und Kleinreden hilft nicht
Wie soll man auf diese niederschmetternden Befunde reagieren? Was muss jetzt passieren? Zuerst gilt es, das ganze Ausmaß des Schlamassels wahrzunehmen und zu verstehen – Leugnen und Kleinreden hilft nicht. Für viele Eltern, Lehrkräfte und Politiker wird die Erkenntnis des eigenen Nichtwissens oder Versagens einem Schock gleichkommen. Viele werden trauern: darüber, den eigenen Sohn ein Stück weit an profitorientierte Konzerne verloren zu haben; oder darüber, dass der eigenen Tochter nur wenige unschuldige Kindheitsjahre vergönnt waren, bevor sie mit dem Schmutz der digitalen Erwachsenenwelt in Kontakt kam.
Dann gilt es, politische und pädagogische Maßnahmen zu ergreifen – besser spät als gar nicht! Dazu gehört aber nicht, die digitale Welt an sich zu verteufeln. Denn diese wird bleiben, und zweifellos eröffnen sich dort auch viele begrüßenswerte neue Möglichkeiten, die uns das Leben erleichtern. Nein, es geht darum, den Kindern endlich einen verantwortungsvollen, einen kontrollierten und einen (je jünger, desto stärker) limitierten Umgang mit Smartphone und Internet beizubringen und vor allem vorzuleben.
Die große Unbekannte sind die Eltern
Womit wir bei der großen Unbekannten, ja dem regelrechten Dunkelfeld der Problematik wären: den Eltern. Auf sie und ihre bislang viel zu wenig beleuchtete Rolle wird sich der Blick ebenfalls richten müssen. Denn das Problem der Abhängigkeit beginnt schon bei ihnen. Zu bedenkenlos haben sich Erwachsene bei Amazon, Youtube, Facebook, Instagram, Netflix, Tinder und Whatsapp in ein System harmlos wirkender Abhängigkeiten hineinlocken lassen. Und sie gehen irrtümlich davon aus, dass auch ihre Kinder dort ganz allein zurechtkommen – kulturgeschichtlich fast ein Rückfall ins Mittelalter, als Kinder ebenfalls wie „kleine Erwachsene“ ohne besondere Bedürfnisse behandelt wurden.
Viele Eltern stellen ihre Kleinen nicht nur in schwierigen Situationen wie im Flugzeug mit Tablet und Handy ruhig, sondern regelmäßig auch im Restaurant oder sogar zu Hause beim Abendessen – und vergessen darüber, dass ein gemeinsames Tischgespräch ihr Erziehungsauftrag wäre. Sie missachten, dass ein Fünfjähriger nichts im Internet verloren hat, sondern in den Garten oder auf den Spielplatz gehört. Aus Angst verbieten sie ihren Kindern, selbstständig um die Häuser zu ziehen und den Wald zu erkunden, obwohl die „reale“ Welt seit Langem immer sicherer wird; stattdessen interessieren sie sich kaum für die kindlichen Online-Aktivitäten, obwohl gerade dabei – nicht nur im Darknet, sondern auch auf Youtube und Tiktok! – zunehmend Gefahren drohen. Die Folgen? Neben vielen anderen diese: Immer mehr Minderjährige halten rechtspopulistisches Gebell aus sozialen Medien für staatsbürgerliches Faktenwissen – und können sich gleichzeitig nicht mehr richtig die Schuhe binden, geschweige denn schwimmen.
Kämpfe um einzelne Minuten am Handy
Wahr ist aber auch: Viele Eltern sind überfordert und erschöpft. Sie haben keine Kraft, die kryptischen Nutzungsbedingungen von Apps zu studieren; keine Zeit, um ihren Kindern bei allem über die Schulter zu schauen; kein Gespür, um immer zu durchschauen, was es bedeutet, wenn nicht mehr mit Geld, sondern mit Daten und Aufmerksamkeit bezahlt wird; andererseits auch keine Lust, ihre Kinder derart von der modernen Technologie fernzuhalten, dass diese als Außenseiter gehänselt werden. Wer es selbst nicht erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, was für Kämpfe Väter und Mütter oft ausfechten, wenn sie versuchen, die Handy-Nutzung des eigenen Nachwuchses zu regulieren. Es ist eine frustrierende Sisyphos-Arbeit, die viel Kraft kostet und häufig scheitert. Viele Teenager ringen erbittert um jede Minute Online-Zeit, sie hintergehen und belügen dafür auch ihre Eltern – am Ende können so ganze Familien in Vertrauenskrisen und Dauerstreit stürzen.
Was also tun? Es bleibt nur die Flucht nach vorn. Zuversichtlich bleiben, die Ärmel hochkrempeln und retten, was zu retten ist! Das heißt: Kindern mehr Zeit widmen, mit ihnen spielen und lesen, in die Natur hinausgehen, ganz analog Spaß haben. Aber auch ihr digitales Leben teilen, verstehen und positiv beeinflussen. Wir müssen endlich begreifen: Unsere Kinder leben jetzt in zwei Welten. In beiden brauchen sie Freiheiten. Aber auch unsere Erziehung, unsere Begleitung, unseren Schutz.