Werden behinderte Menschen ausgebeutet?
Werkstätten: sozial oder nicht?
Die Bezahlung von Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen sorgt immer wieder für Kritik. Mangels Alternativen sehen jedoch sowohl Vertreter der Beschäftigten als auch die Betreiber keine bessere Option. Ein Vor-Ort-Besuch in einer Einrichtung des Katholischen Jugendsozialwerkes in München-Pasing.

Ralf Göbel klopft mit einem Hammer vorsichtig ein Röhrchen aus einem kleinen Plastikzylinder. Er und seine Kolleginnen zerlegen in der Werkstatt 2 des Monsignore-Bleyer-Hauses Wasseruhren – über tausend Stück haben sie schon recycelt. Von 8 bis 16 Uhr wird gearbeitet. Göbel liebt seinen Job, fühlt sich wohl und ist seit Jahren im Werkstattrat aktiv, der die Beschäftigten vertritt, doch auf sein Konto schaut er ungern. Rund 800 Euro hat er aktuell darauf, nach 40 Jahren Arbeit. Ansparen konnte er sich nie etwas. Für größere Anschaffungen reicht es nicht. „Ich möchte mir auch mal etwas gönnen, aber es geht nicht, weil einfach zu wenig Geld da ist.“
133 Euro beträgt der Grundlohn in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Wer leistungsfähiger ist, bekommt noch einen Zuschlag, hinzu kommt das Arbeitsförderungsgeld. Doch in der Summe kommt bei den Beschäftigten zu wenig an, findet auch Dilara Ercan. Insgesamt bekommt sie ein „Taschengeld“ von 350 Euro monatlich. „Ich bin auf meine Eltern angewiesen, will das aber eigentlich gar nicht mehr und wäre gerne selbstständiger.“
Leistung steht nicht im Vordergrund
Kaum Geld für den Alltag und keine Möglichkeit zu sparen – das treibt viele der über 140 Beschäftigten im Haus um. Sie arbeiten in neun Arbeitsgruppen, schreinern, gärtnern, waschen und verpacken. Keine Basteleien für Christkindlmärkte, sondern Dienstleistungen für Großkunden, trotz einer mehr oder weniger stark ausgeprägten kognitiven Behinderung. Hinzu kommen körperliche und auch seelische Einschränkungen, die die Arbeit auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt nahezu unmöglich machen, erklärt Sozialpädagoge Gerhard Ziesel.
Laut ihm geht es in den Werkstätten nicht um Profite, sondern um eine sinnvolle Tätigkeit, die den Tag strukturiert und dem jeweiligen Beschäftigten entspricht. Auch deshalb gibt es so unterschiedliche Werkstattgruppen, damit die Beschäftigten wählen können, welcher Job zu ihnen passt, selbst wenn man manchmal überfordert ist. „Wenn jemand eine kleine Krise hat, dann steht die im Vordergrund und nicht die Arbeit.“ In solchen Fällen kümmert sich Zwiesel oder ein anderes Mitglied des Sozialdienstes, den er innerhalb des Hauses leitet, um die betroffene Person, beruhigt und wartet so lang, bis der Beschäftigte weiterarbeiten kann – oder eben nicht.
Mit der Lohnsituation unzufrieden
Trotz solcher Hilfestellungen lässt sich die Arbeit in Werkstätten für behinderte Menschen durchaus mit der auf dem ersten Arbeitsmarkt und den dortigen Gehältern vergleichen, betont Dietrich Engels. 2023 führte der Soziologe und Leiter des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) im Auftrag des Bundessozialministeriums eine Studie durch, die erforschte, wie sich das Entgeltsystem in Werkstätten verbessern ließe. Er kam zu dem Schluss, dass sich die abzüglich der zusätzlichen Pausenzeiten ergebende Nettoarbeitszeit von 29 Stunden, die Vollzeitbeschäftigte in den Werkstätten produktiv sind, durchaus mit ähnlichen Arbeitszeiten auf dem regulären Arbeitsmarkt in Relation setzen lassen, wenngleich gegebenenfalls Handicaps ausgeglichen werden müssen.
Der Lohn für die errechnete Nettoarbeitszeit in den Werkstätten entspricht aber nicht einmal ansatzweise dem vergleichbaren Mindestlohn. „Das wird auch von den Beschäftigten so wahrgenommen“, berichtet Engels im Podcast Total Sozial. Der Studie nach empfinden zwei Drittel der Beschäftigten ihren Lohn als zu niedrig. Zugleich sind rund 90 Prozent mit ihrer Gesamtarbeitssituation in den Werkstätten zufrieden oder sehr zufrieden.
Werkstätte könnten Mindestlöhne nicht erwirtschaften
Zu dieser großen Zufriedenheit tragen auch die individuellen Hilfestellungen bei, sagt Armin Steckenbauer, der Werkstattleiter im Monsignore-Bleyer-Haus. Doch mit diesen Zusatzleistungen, für die es eigene Fachkräfte gibt, Gewinne zu erwirtschaften, sei fast unmöglich. Trotz geringerer Leistungsfähigkeit der Werkstätten bieten sie ihre Dienstleistungen und Produkte nämlich auf demselben Markt an wie die Konkurrenz des ersten Arbeitsmarktes. Die Konsequenz: kaum Gewinne, die in Form von Lohnsteigerungen an die Beschäftigten weitergegeben werden können, so Steckenbauer.
Die Forderung nach Mindestlohn versteht er, dafür müssten die Dienstleistungen und Produkte aber für das Vielfache der Konkurrenz angeboten werden. Aktuell lassen sich die außerordentlichen Arbeitsbedingungen seiner Erfahrung nach nicht mit einer ordentlichen Bezahlung unter einen Hut bringen. Außerdem weist der Werkstattleiter darauf hin, dass die finanzielle Situation der Beschäftigten nicht nur vom Lohn abhängt.
„Nicht zwangsweise schlechter gestellt“
Zum Entgelt kommen demnach zum Beispiel Grundsicherung und gegebenenfalls Erwerbsminderungsrente dazu. Nach Berechnungen der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen) kommt das verfügbare Monatseinkommen von etwa 1.100 Euro für WfbM-Beschäftigte dem einer 35-Stunden-Woche im Mindestlohn von ca. 1.400 Euro schon recht nahe. „Menschen mit Behinderung sind also nicht zwangsweise schlechter gestellt als Menschen, die in der Wirtschaft den Mindestlohn verdienen“, betont Werkstattleiter Steckenbauer. Außerdem verweist er auf die Sozialversicherungsbeiträge, die für WfbM-Beschäftigte vom Bezirk übernommen werden und zu einer rund 60 Prozent höheren Rente führen als bei gleich vielen Beitragsjahren im Mindestlohn.
Doch im Gegensatz zu den guten Arbeitsbedingungen, die auch die Beschäftigten selbst loben, kommt das Geld nicht unmittelbar bei ihnen an. Es setzt sich neben den Einzelteilen des Lohns eben aus vielen Bausteinen zusammen, die teilweise von den Beschäftigten selbst oder Familienmitgliedern bei diversen Ämtern beantragt werden müssen. Nicht alle Gelder, die den Beschäftigten in der Theorie zustehen, werden so abgerufen.
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Transparenteres System für höhere Zufriedenheit
Außerdem verwalten viele vom Lohn abgesehen ihr Geld nicht selbst. Das führt dazu, dass sie ihre Arbeit nicht finanziell wertgeschätzt fühlen und sich als abhängig von der Familie erleben. Engels plädiert daher für eine Reform hin zu einem transparenteren System bei vergleichbaren Kosten für den Sozialstaat: „Müssten die Beschäftigten die Leistungen nicht in diesem komplizierten System an unterschiedlichen Stellen zusammensammeln, sondern würden die Steuermittel direkt in eine Art subventionieren Mindestlohn erhalten, wäre ihnen sehr viel mehr geholfen!“
Reformen im Beschäftigungswesen für Menschen mit Behinderung müssten aber noch viel weiter gehen, um dem vollständigen Inklusionsanspruch der UN-BRK (Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen) zu genügen. Rund zehn Prozent der Beschäftigten im Monsignore-Bleyer-Haus sind in einer Außenarbeitsstelle tätig. Sie sind also in den Werkstätten angestellt, arbeiten aber in einer anderen Firma. Solche Angebote sollte es noch mehr geben, findet auch Dilara Ercan, die seit Jahren eigentlich den Beruf der Kinderpflegerin erlernen will: „Ich wünsche mir, dass es für behinderte Menschen einfacher wird, eine Ausbildung zu machen!“ Auch Ralf Göbel wünscht sich mehr Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt und will Unternehmen Mut machen, sich hier zu engagieren: „Wir sind Menschen, die mitanpacken können, und ich finde, das sollte auch möglich sein.“
Werkstätten auch in Zukunft wichtig
Werkstattleiter Armin Steckenbauer war selbst lange in der freien Wirtschaft tätig. Er hat teilweise Verständnis, dass Unternehmen sich schwer damit tun, Menschen mit komplexen Behinderungen zu beschäftigen, sagt aber auch: 10 bis 20 Prozent der Beschäftigten im Monsignore-Bleyer-Haus könnten zusätzlich zu den aktuell auf Außenarbeitsplätzen eingesetzten Mitarbeitern dort arbeiten. Um den Status Quo zu verbessern, ist die Politik gefragt. Steckenbauer wünscht sich Reformen, warnt aber davor, Werkstattbetriebe ganz zu schließen. „Ich glaube, dass es immer einen Personenkreis geben wird, für die WfbMs die richtige Anlaufstelle sind.“ Er wünscht sich aber eine andere Rolle der Einrichtungen. „Mehr als eine Art Tagesstruktur, weniger als Leistungsbetrieb, der wirklich diese Umsatzerwartung hat und darauf angewiesen ist, diese Umsätze auch zu erwirtschaften.
Außerdem dürfen die Werkstätten nicht mehr als gesellschaftliche Blase existieren, in der Menschen mit Behinderung untergebracht werden und kaum jemand mit ihnen zu tun hat. Dilara Ercan geht es darum, als Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden: „Die Gesellschaft muss sehen, dass wir nicht ansteckend, sondern trotz unseres Handicaps Menschen sind, die dazugehören!“
Werkstätte für behinderte Menschen gab es in Deutschland vereinzelt schon Ende des 19. Jahrhunderts. Die NS-Diktatur ab 1933 betrachtete Menschen mit Behinderung als „unwertes Leben“. Infolgedessen wurden hunderttausende Behinderte systematisch ermordet. Nach dem Krieg entwickelten deshalb geschützte Werkstätten für Menschen mit Behinderung – in den 60er und 70er Jahren legte die Bundesrepublik die sozialpolitische Grundlage für Werkstattbetriebe, wie es sie heute gibt.
Die Werkstättenverordnung von 1980 setzte die politischen Grundlagen in konkrete Richtlinien um, bestimmte Aufgaben und Ausstattung der Werkstätten, die personelle Struktur und die Verwendung der finanziellen Mittel. Das geltende Recht definiert Werkstätten als Inklusionsbetriebe, die nicht auf Profit ausgerichtet sind und nicht Teil des allgemeinen Arbeitsmarktes sind. Daher gelten die Beschäftigten auch nicht als Angestellte und haben auch keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn.
Das steht aber in Konflikt mit der UN-BRK, der Behindertenrechtskonvention, die von den Vereinten Nationen 2006 verabschiedet wurde und die Deutschland 2009 ratifizierte. Sie spricht allen Menschen unabhängig von einer Behinderung das gleiche Recht auf einen frei wählbaren Arbeitsplatz zu, mit dem man seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Außerdem kritisiert sie die Segregation von behinderten Menschen in exklusiven Einrichtungen und fordert stattdessen die vollständige Inklusion Behinderter in die Gesellschaft und folglich die schrittweise Abschaffung der Werkstätten.
Das wiederum sehen die Beschäftigten selbst kritisch. Vertreten werden sie in den einzelnen Einrichtungen von den Werkstatträten, die sich auch landes- und bundesweit organisiert haben. Die bayerische Landesarbeitsgemeinschaft LAG hält die Abschaffung des gegenwärtigen Systems von Werkstätten für Menschen mit Behinderung für unmöglich, da es gegenwärtig keine Alternative gibt. Aktuell sind über 300.000 Menschen mit Behinderung in den Werkstätten beschäftigt.