Interview
Verfolgt und heimlich gelesen
Die jüdische Dichterin Mascha Kaléko musste zweimal vor Verfolgung fliehen: 1914 und 1938. Nun hat Autorin Veronika Wiggert mit der Illustratorin Marie Geissler ein Kinderbuch über sie herausgebracht. Alois Bierl hat mit der Autorin gesprochen.

Frau Wiggert, warum haben Sie zusammen mit der Illustratorin Marie Geissler ein Bilderbuch gerade über die deutsch-jüdische Dichterin Mascha Kaléko gemacht?
Veronika Wiggert: Weil sie einfach toll ist. Ich habe sie vor 20 Jahren in einem Buchladen entdeckt und war sofort emotional angefasst von ihrem Stil, von ihrer Sprache: wie sie Themen wie Trauer, Einsamkeit, aber auch Heiterkeit punktgenau zusammenfassen kann. Marie Geissler ist ein genauso großer Fan von Mascha Kaléko wie ich. Gemeinsam mit ihr an diesem Buch zu arbeiten, war eine ganz wunderbare und bereichernde Erfahrung!
Was haben Leben und Werk von Mascha Kaléko heutigen Kindern zu sagen?
Wiggert: Ich glaube, Kinder beschäftigt es sehr, wenn jemand seine vertraute Umgebung verlassen muss, um sein Leben zu retten. Und wenn ihn dort, wo er ankommt, niemand versteht, weil eine andere Sprache gesprochen wird. Gerade zurzeit hören und erleben Kinder, wie Gleichaltrige fliehen müssen oder vertrieben werden. Mascha Kaléko hat sich trotz aller schwierigen Umstände nicht entmutigen lassen – das gibt mir und vielleicht auch meinen Leserinnen und Lesern Zuversicht.
Haben Sie das Buch auch als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus geschrieben?
Wiggert: Als ich 2021 an der ersten Textversion saß, hatte ich vor allem Mascha Kaléko, ihr wundervolles Werk und eben diesen Verlust der eigenen Sprache – und den Umgang damit – im Sinn. Dann kam der 7. Oktober 2023 und mir wurde plötzlich klar, dass es immer noch diesen grundsätzlichen Antisemitismus gibt. Wir sind leider lange noch nicht da angekommen, wo ich Deutschland weitgehend vermutet hatte: als ein Land, in dem jüdische Menschen keine Angst haben müssen, zu leben und sich offen zu zeigen. Als Reaktion darauf habe ich dann ein Nachwort für das Buch geschrieben, in dem ich unter anderem auch davon erzähle, dass Mascha Kaléko nach der Schoah ein feines Gespür für alte Nazis in der Bundesrepublik hatte. Mir ist es wichtig, auch junge Menschen dafür zu sensibilisieren, dass wir diese Zeit niemals vergessen und es nie wieder so weit kommen darf!
Inwiefern kann denn das Buch Kinder für Antisemitismus und Hass auf Minderheiten sensibilisieren?
Wiggert: Ich glaube, das funktioniert stark über die Bilder, die Marie Geissler gemacht hat: Wenn eine SA-Horde auftaucht, eine große Bildfläche bedrohlich einnimmt, und Juden einschüchtert – das verstehen Kinder sehr gut und lehnen eine solche brutale Gemeinheit instinktiv ab. Ein anderes Bild zeigt, dass nicht alle Menschen mit dieser Gewalt einverstanden sind. Darin reichen Fans von Mascha Kaléko ihre Gedichte im Untergrund, in der Berliner U-Bahn nämlich, heimlich weiter. Eines meiner Lieblingsbilder im Buch.
Wie können und sollen Autoren von heute denn Biografien wie die von Mascha Kaléko erzählen?
Wiggert: Ich glaube nicht, dass es genügt, einfach nur eine berühmte Person herauszusuchen und deren Leben nachzuerzählen. Es braucht einen roten Faden, der sich durch das Leben dieser Figur zieht. Also bei Mascha Kaléko war das eben der Verlust der Sprache in der Fremde, wie ihn z. B. jetzt viele Kinder, die nach Deutschland flüchten, erleben. Das ist mit ihrer Erfahrung verbunden, gleich zweimal im Leben alles hinter sich lassen zu müssen. Sie ist ja schon 1914 als Siebenjährige vor Judenpogromen aus Osteuropa geflohen, bevor sie als erwachsene Frau ihre zweite Heimat in Deutschland verlassen musste. Diese Erfahrungen liegen über Kalékos Biografie. Genauso wie ihr Wille, an ihrer dichterischen Begabung und der deutschen Sprache unbeirrt festzuhalten und sich zu behaupten.
"MKR - Magazin" Episode vom 20.1.2025, Kapitelmarke "Interview mit Veronika Wiggert" ab Min. 00:15