Kommentar
Darf man Israel kritisieren?
Darf man die israelische Regierung für ihre Palästina-Politik kritisieren und das womöglich zu harte militärische Vorgehen im Gaza-Krieg anprangern – oder betritt man damit schon den verminten Boden des Antisemitismus? Stefan Jakob Wimmer hat dazu eine klare Meinung.

„Wer ‚Antisemitismus‘ ruft, wo keiner ist, der schadet dem Kampf gegen Antisemitismus“, so prangerte der ehemalige Botschafter des Staates Israel in Deutschland, Shimon Stein, im Jahr 2017 einen gefährlichen Missstand an. Seitdem haben immer mehr Antisemitismus-Beauftragte, Definitionen und Resolutionen die Ausbreitung des Antisemitismus tatsächlich nicht gebremst. Im Gegenteil, seit dem 7. Oktober 2023 bangen jüdische Menschen in Deutschland um ihre Sicherheit! Was also läuft falsch?
Regelmäßig werden propalästinensische Proteste dann, wenn sie sich gegen den jüdischen Staat als solchen richten, als „antisemitisch“ gebrandmarkt und verfolgt. Und in der Tat sind Motive und Stereotypen dumpfer und böswilliger Judenfeindschaft in arabischen und teilweise auch anderen muslimischen Ländern erschreckend verbreitet, werden propagiert und genährt. In manchen Gesellschaften mehr noch als bei den Palästinensern selbst, denn diese können unter bestimmten Voraussetzungen immerhin die Chance haben, Israelis nicht nur als radikalisierten Siedlern oder Soldaten, sondern auch als Menschen mit allen Stärken und Schwächen zu begegnen. Die Ablehnung des Staates Israel geht unheilvolle Allianzen mit dem uralten Judenhass ein und hat dann keinen Anspruch auf Gehör, Debatte oder Legitimität in Deutschland.
„Israelkritisch“ und „antisemitisch“ unterscheiden
Wer aber die Politik Israels dafür verantwortlich macht, dass palästinensische Menschen Entrechtung und fortgesetztes Leid erleben, dass aktuell Kriegsverbrechen bis hin zu einem möglichen Genozid an ihnen begangen werden, der kann dafür entgegengesetzte Motive haben als selektiven Menschenhass – und zwar unabhängig davon, wie sehr seine Wahrnehmungen zutreffen oder nicht. Anstelle einer eingeforderten Solidarität „ohne Wenn und Aber“ möchten sich viele, vielleicht die meisten Menschen mit allen unschuldigen Opfern auf beiden Seiten des Israel-Palästina-Konflikts solidarisieren dürfen. Wenn wir hier aber nicht differenzieren, wenn wir statt „israelkritisch“ mechanisch „antisemitisch“ sagen und schreiben, dann verzerren wir die Wahrheit und sind Teil des Konflikts.
Wer, wie die israelische Regierung, sogar die Entscheidungsprozesse angesehener internationaler Institutionen als „antisemitisch motiviert“ delegitimiert, der missbraucht den Antisemitismusvorwurf mutwillig und entwertet ihn für politische Zwecke. Wir laufen aber alle Gefahr, ungewollt in eine Antisemitismus-Falle zu tappen, wenn wir in aufrichtigem Bemühen, gegen jeden Antisemitismus vorgehen zu wollen, die Werte des Grundgesetzes infrage stellen oder beschneiden; wenn wir in diesem Bemühen andere Unrechtsstrukturen decken oder sogar (mit-)verursachen. Dann schüren wir de facto Antisemitismus, anstatt ihn effektiv zu bekämpfen. Dann schaden wir jüdischem Leben und jüdischen Menschen. Und schaden letztlich der Sicherheit des Staates Israel.
[inne]halten - das Magazin 6/2025

Fastenzeit
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Die Lebenswirklichkeiten beider Seiten sehen
Denn wer israelbezogenen Antisemitismus ernst nehmen will, kommt um aufrichtige Kompetenz für die Lebenswirklichkeiten beider Seiten des Konflikts nicht herum. Dazu gehört auch, dass die grauenhafte Terrorinvasion des 7. Oktober ihrerseits eine lange Vorgeschichte hat und dass jedes Land und jedes Volk das Recht hat, sich zu verteidigen. Aber niemals mit allen Mitteln. Genau das erwarten die Religionen, alle Religionen, von uns – wenn wir sie nicht missbrauchen, sondern ernst nehmen: gegen Unrecht aufzustehen, egal welcher Seite die Täter oder die Opfer zugehören, und Konflikte für alle gerecht und friedlich zu lösen.
(Stefan Jakob Wimmer, Vorsitzender des Vereins Freunde Abrahams – Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog)