Zukunft
14.10.2025

„Unsere Konzepte gebären Monster“ 

Unter jungen Erwachsenen berichten mehr Menschen als je zuvor von Missbrauchserfahrungen: Der Kinderpsychiater Jörg Fegert sieht in dieser Entwicklung einen schleichenden Skandal. Er erläutert, was sich ändern muss. 

     

Übergriffe in den digitalen Medien nehmen zu. Übergriffe in den digitalen Medien nehmen zu. Foto: © Corinne Simon/KNA

Seit den 1990er Jahren befasst sich Jörg Fegert mit Fällen sexualisierter Gewalt – und der Frage, wie sie sich vermeiden lassen. Der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Ulm ist Mitglied im Fachbeirat der Unabhängigen Beauftragen zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, sowie im Lenkungsgremium des Center for Child Protection der päpstlichen Universität Gregoriana. Im Interview spricht er über neue und bleibende Gefahren – und darüber, wie man junge Menschen vor ihnen schützen kann. 

Herr Professor Fegert, Sie und andere „Aufklärer“ haben schon viel erreicht, oder? 


Das Schlimme ist: Missbrauch hat in der jüngsten Generation erwachsener Menschen zugenommen. Wir denken, dass wir viel über das Thema sprechen. Aber Untersuchungen zeigen, dass das Phänomen zunimmt: 12,3 Prozent der allgemeinen Bevölkerung sind betroffen, unter Frauen etwas mehr. Das ist extrem viel. 

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? 


Sie hat vor allem damit zu tun, dass Übergriffe in den digitalen Medien zunehmen. Stichwort Grooming – also die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen. Zwei Drittel derjenigen, die in ihrer Familie missbraucht wurden, berichten auch über Missbrauch im Internet. Wir haben also neue Gefahrenkonstellationen, die Betroffene verletzbarer machen. 

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Wie gehen Sie bei diesem sensiblen Forschungsthema vor? 

Ein Forschungsprojekt meiner Kollegin Ann-Christin Haag – „TikTalk Teens“ – arbeitet mit Datenspenden. Jugendliche stellen uns also ihre Tiktok-Daten zur Verfügung, und wir analysieren, wie sie dort reden und sich verhalten. Für mich war schockierend, dass oftmals schon die Profilbilder eine Zuordnung zulassen: Welche Gruppe hat Erfahrung mit Missbrauch, welche nicht. Nonverbal wird auf den Plattformen etwas signalisiert, das zu erneuter Gefährdung führt. Wenn wir das mit künstlicher Intelligenz (KI) und psychologisch geschultem Personal erkennen – dann können pädophile Täter das genauso. 

Was heißt das konkret – präsentieren sich Missbrauchsopfer freizügiger? Oder ist das ein Klischee? 


Dieses Klischee hat man schnell im Kopf, aber es greift zu kurz. KI-Analysen haben den Vorteil, dass sie nicht moralisch sind, sondern schlicht Muster erkennen. Eines davon ist, dass betroffene Mädchen und Jungen mehr Pornografie verfolgen und nach entsprechenden Inhalten suchen. Und es hilft nichts, zu sagen: Macht keine Nacktfotos. Das machen heutzutage fast alle jungen Menschen in ersten Beziehungen. Sie kennen die Risiken, aber sie machen es trotzdem, weil sie verliebt sind. 

Was kann man sonst tun? 

Wichtig und sehr wirksam ist Offenheit. Viele Jugendliche erzählen uns Dinge, die ihre Eltern nicht wissen, lassen uns ihr Handy spiegeln und sind auch an Rückmeldungen interessiert. 

Zugleich geht jedes Mal eine Schockwelle durch die Gesellschaft, wenn ein neuer Skandal hochkocht. Warum sind wir jedes Mal aufs Neue überrascht von Missbrauchstaten? 

Vielleicht will man nicht so genau hinschauen. Mit Missbrauch in Institutionen habe ich mich erstmals in den 1990er Jahren befasst – das war der Fall eines Chefarztes, der Kinder systematisch missbraucht und entsprechende Fotos gesammelt hat. 2010 hat es mit dem Canisius-Kolleg eine herausgehobene Bildungseinrichtung betroffen, kurz darauf die Odenwaldschule als Vertreterin der Reformpädagogik. Das zeigt, dass Missbrauch nicht mit der Hierarchie der katholischen Kirche oder einer gewissen Verklemmtheit zu erklären ist. Es geht immer um Machtverhältnisse. 

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Was bedeutet das konkret? 

Die Täter nutzen unterschiedliche Strategien: Wer ein geistliches Führungsverhältnis nutzt oder gar die Beichte, den sakramentalen Bereich, der handelt perfide. Auf ähnliche Weise missbraucht ein Arzt seine institutionelle Macht, der unnötige Untersuchungen vorschiebt. Diese Dynamik ist aber noch nicht ausreichend bekannt – Gesellschaft und Politik reagieren auf den jeweiligen Skandal. Das hat sich bei Fällen wie Lügde oder Staufen gezeigt ... 

... wo Kinder jahrelang von engsten Familienmitgliedern missbraucht und anderen zum Missbrauch angeboten wurden. 

Das hat die Diskussion teils vorangebracht. Es führt aber auch zu Überreaktionen. Der eigentliche Skandal ist für mich die Zahl der 12,3 Prozent Betroffenen in der Allgemeinbevölkerung. Zum Vergleich: Die Prävalenz von Diabetes Typ II, einer Volkskrankheit, liegt ungefähr bei sieben Prozent – gefühlt kennt jeder einen Diabetiker im Umfeld. Mindestens genauso kennt rein rechnerisch jeder eine Person mit Missbrauchserfahrung. Darüber spricht man aber nicht – man versucht, das Thema zu verdrängen. Aber eine Dämonisierung hilft nicht weiter. 

Mitunter ist zu hören, dass Schutzkonzepte übertrieben seien – etwa, wenn in Kitas ein Kind nicht mehr umarmt wird, das sich verletzt hat. Wie sehen Sie das? 


Wenn ich so etwas höre, erschrecke ich. Dann denke ich: Unsere guten Konzepte gebären Monster. Kinder brauchen Zuwendung und Nähe – sie muss aber stimmig sein. Es ist ein Unterschied, ob ich ein dreijähriges Kind tröste oder ob ich es ungefragt anfasse oder mich auf das Bett einer Patientin setze, ohne dass es dafür einen medizinischen Anlass gibt. Wir können die Verhinderung sexualisierter Gewalt nicht mit dem Zentimetermaß regeln, sondern mit angepassten Schutzkonzepten: In Kinderheimen müssen sie anders aussehen als bei Großevents wie Kirchentagen oder bei Jugendfreizeiten. 

Wir müssen von gut gemeinter Faltblatt-Prävention wegkommen. Die katholische Kirche war, unter Druck stehend, Vorreiterin in Deutschland. Aber in der Nachsorge fühlen sich bis heute viele alleingelassen. Die unterschiedlichen Reaktionen sogenannter Bystander spalten Vereine und Gemeinden. Manche fragen sich nach einem Missbrauchsfall: Wo stand ich? Hätte ich etwas sagen müssen? Andere sagen: Ach, unser Pfarrer war doch der Beste. Zudem gibt es hochwirksame Therapien für Betroffene, denen seit Jahren nichts hilft – zum Beispiel, einige Tage intensiv an ihrem Thema zu arbeiten. Da könnte Kirche zum Kompetenzzentrum werden und Angebote machen. 

Was raten Sie Eltern, die ihre Kinder schützen, ihnen aber keine Angst machen wollen? 

Standards etwa bei Kitas einzufordern, ist ein Schritt zu aktiver Elternschaft. Zudem ist wichtig zu wissen, dass Kinder sich oft nicht direkt an ihre Eltern wenden, sondern vielleicht an ein befreundetes Kind oder dessen Mutter, eine andere Vertrauensperson. Diese Erwachsenen können sich an das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch der Unabhängigen Bundesbeauftragten unter der Nummer 0800 22 55 530 wenden – das leider noch zu wenig bekannt ist. 

Paula Konersmann

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Artikel von KNA
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