Herzensbildung – Lektionen fürs Leben
Warum Herzensbildung nicht nur mit der individuellen Persönlichkeit zu tun hat, sondern sogar entscheidend für die Zukunft der Demokratie ist, verrät der Jesuit Klaus Mertes im Interview.
Warum haben Sie ein Buch über Herzensbildung geschrieben?
Weil die Herzensbildung meines Erachtens in den bildungspolitischen Diskursen zu kurz kommt. Wir stehen vor dem Phänomen, dass die Kommunikation in unserer Gesellschaft immer stärker im Aggressionsmodus eskaliert. Die Debatten sind Machtkämpfe der Meinungen. Immer weniger Menschen öffnen sich für den Anderen und fragen sich: Könnte da vielleicht auch was darin sein, wo ich etwas lernen kann?
Was macht Herzensbildung Ihrer Ansicht nach aus?
Nehmen Sie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Zwei Kleriker gehen an dem erschlagenen Mann am Wegesrand vorbei, sehen ihn und gehen weiter. Der Samariter sieht, bleibt stehen und handelt. Wie kommt es zu diesem Unterschied? Meines Erachtens entsteht er deswegen, weil der Samariter etwas sieht, was die anderen nicht sehen. Ihre Sicht auf dem Mann ist geprägt durch Prioritäten, die ihre Wahrnehmung überlagern, zum Beispiel die Priorität „Ich muss jetzt rechtzeitig und kultisch rein beim Gottesdienst ankommen“. Sie räumen also der kultischen Reinheit den Vorrang vor der Regung des Mitleids ein, das sie ja vielleicht auch ein wenig spüren. Herzensbildung besteht in Wahrnehmungskompetenz. Und die hängt mit Haltungen zusammen. Diese Haltungen sind aber nicht vom Himmel gefallen, sondern gewachsen, geprägt von kulturellen Einflüssen, von Erfahrungen, von Gewohnheiten und so weiter. Daraus ergibt sich die Frage: Kann man solche Haltungen überhaupt lernen – und somit auch lehren?
Kann man es?
In meiner Anfangszeit als Schulleiter erhielt ich einmal einen Brief von einem Mann, der am Canisius-Kolleg in Berlin Schüler war zu einer Zeit, als ich noch in den Windeln lag. Mit knapp 65 Jahren hatte er nun die Diagnose Krebs bekommen und nahm dies zum Anlass, auf seine erfolgreiche Karriere als großer Wirtschaftsmanager zurückzuschauen und zu fragen: Was hat mir am meisten geholfen für meine Karriere? Die Antwort: Orchester spielen in der Schule. Da habe ich Haltungen gelernt – hinhören, sich zurückhalten, zum rechten Zeitpunkt auftreten, Lampenfieber überwinden, üben, Durststrecken durchstehen und verlässlich sein. Hätte der Mann deswegen Orchester gespielt, um diese Haltungen zu lernen, dann hätte er es nicht gelernt. Die gelernten Haltungen waren sozusagen nur ein Kollateral-Nutzen des Orchesterspielens. Herzensbildung ist nicht etwas, was man als messbares und abfragbares Ergebnis anzielen kann. Schon gar nicht in der Schule. Dann wird es nämlich autoritär.
Wie kann Herzensbildung dann erreicht werden?
Indem in der Schule auch Dinge praktiziert werden, die nicht zweckorientiert sind im Hinblick auf ein bestimmtes messbares Ergebnis. Ich nehme ein Beispiel: Die gegenwärtige Bundesbildungsministerin plädiert dafür, dass man jetzt auch in der Schule schon lernt, Steuererklärungen zu machen, und Ähnliches. Das mag man ja machen, aber damit hat man kein einziges ernsthaftes Bildungsproblem gelöst. Viel wichtiger ist, in der Schule gemeinsame Erlebnisse zu ermöglichen. Also gemeinsam zu musizieren, gemeinsam Theater zu spielen, gemeinsame Stille-Übungen, Wahrnehmungsübungen, gemeinsam sich mit den großen unbeantwortbaren Fragen des Lebens zu beschäftigen: Was ist der Mensch? Was darf ich hoffen? Was kann ich überhaupt sicher wissen und was nicht? Und das alles ergebnisoffen, weil es sonst keine Ergebnisse gibt.
Warum ist gerade die Schule aus Ihrer Sicht ein wichtiger Ort, um Herzensbildung zu erwerben? Sie widmen ihr ja einen großen Teil Ihres Buches.
Ich war ja selbst 35 Jahre Lehrer und dort in Leitungstätigkeiten. Mir wurde im Laufe der Jahre die Ärmlichkeit unserer Bildungsdebatten immer mehr bewusst. Dieses Lernen auf den Test und auf das Ergebnis hin verhindert tiefere Bildung. Mehr noch, es fördert problematische Haltungen, es ist also unter der Perspektive von Herzensbildung kontraproduktiv. Ich treffe heute meist zufällig Schüler, die vor 10, 15 oder 20 Jahren Abitur bei mir gemacht haben. Und dann kommen die eigentlichen Gespräche zustande. Dann erzählen sie mir nämlich, was sie in der Schule wirklich fürs Leben mitgenommen haben. Und dann merke ich: Das war mir ja selbst gar nicht so bewusst, dass ich dies oder jenes gesagt habe.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Zweiter Irakkrieg im Jahre 2003. Die Berliner Gesamtschülervertretung ruft auf zu einer Demonstration von dem Brandenburger Tor am Mittwoch in der Schulzeit. Da kommt ein Schüler zu mir und sagt, er möchte dafür freihaben. Sag ich: „Nö, ist Schule.“ Dann sagt er mir: „Sie sind doch auch gegen den Irakkrieg.“ Sag ich: „Ja, ja, ich war sogar am Samstag auf der Demo dagegen, aber darum geht es jetzt nicht. Du hast jetzt in der Schule zu sein, du kannst ja am nächsten Samstag zur Demo gehen.“ Da wird der Schüler richtig sauer. Und da hätte ich, wie er sich erinnerte, gesagt: „Hör mal, wenn dir was dran liegt, dann geh doch hin und dann kostet es eben anschließend einen Eintrag im Klassenbuch oder was auch immer. Das muss dir dann schon die Sache wert sein!“ 20 Jahre später erzählt er mir nun: „Das, was Sie mir gesagt haben, das ist für mich das Prinzip geworden, mit dem ich heute meine Personalführung im Unternehmen treibe. Die Angestellten sollen Verantwortung übernehmen für ihre Entscheidungen, und nicht immer alles nach oben delegieren.“
Kann man eine solche Haltung lehren?
Offensichtlich kann ich sie nur lehren, wenn ich sie mir selbst zu Herzen nehme. Keine Herzensbildung ohne Herzensbildung der Lehrenden. Und da sind wir wieder jenseits des bloß Planbaren. Wir können unsere Werte nicht vermitteln, wenn wir nur unsere Werte vermitteln wollen wie abprüfbare Lerninhalte. Abprüfbare Lerninhalte muss es ja auch geben. Klar. Aber das allein ist zu wenig. Unser Verhalten als Lehrer und Lehrerinnen macht die positiven oder negativen Haltungen, die wir selbst haben, deutlich. Das merken die Schüler. Daran orientieren sie sich, über Zustimmung oder Abgrenzung. Und sie merken auch ganz genau, wenn wir ihnen da nur etwas zu pädagogischen Zwecken vorspielen. Ich habe mich in dem Gespräch mit dem Schüler ja an zwei Werten orientiert, die hier in einer Spannung zueinanderstehen: auf der einen Seite die Schulpflicht und auf der anderen Seite ein Junge, der ein echtes politisches Interesse hat. In solchen Situationen wird es ja gerade spannend. Der Konfliktfall ist es, in dem sich Haltungen zeigen und bilden.
In Ihrem Buch interpretieren Sie die ignatianischen Exerzitien als einen Lehrplan für Herzensbildung. Inwiefern sind sie das?
Lehrplan ist hier metaphorisch gemeint. Es geht um die Frage, wie ein innerer Prozess hin auf Herzensbildung inhaltlich strukturiert werden könnte. Am Anfang steht die Haltung der Dankbarkeit. Kann man die lernen? Meine Antwort: Ja. Zum Beispiel dadurch, dass man am Abend eines jeden Tages sich eine Minute Stille nimmt und sich fragt: Wo gibt es denn heute etwas, wofür ich dankbar bin? Dinge, über ich schimpfen kann oder an denen ich leide, die fallen mir sofort ein. Aber wenn ich anfange, meine Aufmerksamkeit zu richten auf etwas, was gelungen ist, wo etwas Gutes war, worüber ich mich gefreut habe, dann fange ich an, meine Aufmerksamkeit zu fokussieren, und erwerbe dadurch eine spezifische Wahrnehmungskompetenz. Ich nenne das bewusst „Dankbarkeit“ und nicht „positiv thinking“, weil Dankbarkeit offen ist für die Frage: Wem verdanke ich denn das? Und das muss auch nicht sofort der liebe Gott sein. Das kann etwas sein, was ein Lehrer oder Mitschüler gesagt oder Eltern heute getan haben. In der Schule habe ich mir angewöhnt, am Ende jeder Stunde oder jeder Doppelstunde zu fragen: Gibt es etwas, was ich mir merken möchte, weil ich es interessant und gut fand? Das brauchten die Schüler gar nicht auszusprechen, sie mussten einfach nur eine Minute still dasitzen und darüber nachsinnen. Diese Übung haben wir ritualisiert. Heute kriege ich Briefe von Schülerinnen und Schülern, die mir sagen, dass sie sich das als eine Lebensübung angewöhnt haben.
Was steht noch auf dem „Lehrplan“?
Der zweite Schritt wäre dann: Wo gibt es etwas, wo ich infrage gestellt worden bin und wo ich vielleicht umdenken muss? Biblisch ist das die metánoia: Kehrt um! Geht mal aus euren Denkschemata raus! So ein Denkschema wäre: „Mädchen sind blöd, Jungen sind super.“ Kommt ja in der Schule vor. Oder andere Klischees, zum Beispiel: „Die Ausländer sind ja nur hier, um unsere Sozialhilfe abzukassieren.“ Das wäre die zweite Aufmerksamkeitsstufe, nämlich zu lernen, sich infrage stellen zu lassen – ohne Angst vor Identitätsverlust. Den brauche ich ja auch nicht zu fürchten, wenn ich von einer Grundhaltung der Dankbarkeit getragen bin.
Schritt 3 habe ich „Verantwortung“ genannt, also offen sein für Situationen, in denen ich mich entscheiden muss. Nehmen Sie mal ein Alltagsbeispiel aus der Schule. Ein Schüler wird gemobbt, weil er aus Polen kommt. Jetzt gibt es ja vielleicht den Moment, wo ich spüre, ich sollte mich vielleicht jetzt doch einmal hinstellen und den Mobbern sagen: „Hört auf zu mobben!“ In der ignatianischen Betrachtung ist es der Ruf Christi in die Nachfolge. Ich übersetze einfach säkular: der Ruf in die Entscheidung. So, und jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wenn ich mich dann entscheide, dann mache ich mir auch Feinde. Der dritte Schritt wäre deshalb zu lernen, den Ruf zu Entscheidungen zu hören und dafür im Fall der Fälle Anfeindungen in Kauf zu nehmen.
Würden Sie sagen, dass Herzensbildung etwas ist, was jeder Mensch erreichen kann?
Ja, selbstverständlich. Das gilt für alle Menschen, das gilt nicht nur für Christen. Und es geht um ein Grundthema aller Bildung. Es gibt auch ganz viele Nichtchristen, die so leben. Es geht auch nicht nur um gymnasiale Bildung. Man kann unglaublich viel wissen und nichts mit Herzensbildung zu tun haben. Einer wie Martin Heidegger, ein hochgebildeter Mann, ist auf die Nazis reingefallen, der Arbeiter Georg Elser nicht. Ich glaube, dass die Zukunft der Demokratie an Herzensbildung liegt.