Demokratieförderung
Was passiert in der „Verfassungsviertelstunde“?
Seit diesem Schuljahr ist die sogenannte Verfassungsviertelstunde Pflicht an bayerischen Schulen. Symbolpolitik auf Kosten der Lehrer oder eine echte Stärkung der Demokratie?
Sechste Stunde in einer 6. Klasse des Erzbischöflichen Maria-Ward-Gymnasiums in München-Nymphenburg: Die Doppelstunde Deutsch neigt sich dem Ende entgegen. Auf die rund 30 Schülerinnen wartet in den letzten 15 Minuten aber nicht etwa Literatur oder Grammatik – sondern das Grundgesetz. Das soll in der Schule einen festen Platz im Stundenplan haben. Darauf hatte sich die bayerische Regierung letztes Jahr im Koalitionsvertrag geeinigt. Im aktuellen Schuljahr ist deshalb die „Verfassungsviertelstunde“ verpflichtender Bestandteil des Unterrichts in den Klassenstufen Sechs und Acht sowie den elften Klassen des Gymnasiums.
Gleichberechtigung als Privileg
„Ist doch echt super, dass wir in Deutschland absolute Gleichberechtigung haben, oder?“, fragt Deutschlehrer Christian Lichtenegger. „Ja“, ist sich seine Klasse einig. Gerade haben sie die Verfassungsviertelstunde begonnen und dabei einen Blick auf die Situation außerhalb der Bundesrepublik geworfen: Der Beamer zeigt das Bild einer Demonstration in Afghanistan. Junge Frauen und Mädchen fordern, wie Männer in die Schule gehen zu dürfen. Sie fordern Gleichberechtigung. Eine drastisch andere Lebensrealität als die der Schülerinnen der Münchner Mädchenschule. In Deutschland ist es garantiert durch das Grundgesetz selbstverständlich, dass alle Kinder gleichermaßen in die Schule gehen können. Das Privileg einer solchen Verfassung zeigt besonders die Perspektive von außen, findet Milla: „Es ist unfair, dass wir mehr Rechte haben als Mädchen oder Frauen, die einfach nur woanders geboren wurden.“
Doch Lehrer Lichtenegger belässt es nicht dabei, die Stärken des Grundgesetzes im internationalen Vergleich zu diskutieren. „Ist es denn wirklich so, dass Gleichberechtigung in Deutschland herrscht, oder gibt es Bereiche, in denen Frauen ungerecht behandelt werden?“, hakt er nach. Und natürlich – die gibt es, das wissen auch die Schülerinnen der 6. Klasse schon: Die Care-Arbeit bei den Eltern ist ungleich verteilt, meist verdienen die Männer mehr im gleichen Beruf und beim Fußball dürfen die Mädels manchmal noch immer nicht bei den Jungs mitspielen.
Verfassungsviertelstunde kommt nicht bei allen gut an
Die Verfassungsviertelstunde soll die Bedeutung von Grundrechten für den Einzelnen und das gesellschaftliche Zusammenleben zeigen und so die demokratische Grundhaltung fördern, so das erklärte Ziel der bayerischen Landesregierung. Die Umsetzung ist aber vor allem den Lehrern überlassen. „Dafür habe ich mit der Klasse am Anfang des Schuljahres einen Themenpool erarbeitet und die Mädels gefragt, worüber sie sprechen wollen“, erzählt Lichtenegger. Einmal in der Woche wird eines dieser Themen in der Verfassungsviertelstunde besprochen. Die Lehrkräfte wechseln sich dabei ab.
Lichtenegger unterrichtet neben Deutsch auch Geschichte sowie das Fach Politik und Gesellschaft – die ehemalige Sozialkunde. Thematisch ist die Verfassungsviertelstunde für ihn ein Heimspiel und inhaltlich gut mit seinen eigentlichen Fächern zu verbinden. Schwieriger ist das zum Beispiel in den Naturwissenschaften. Hier fehlen Lehrern dann beispielsweise in Mathe 15 Minuten für das eigentliche Fach, gleichzeitig muss mit der Verfassungsviertelstunde Unterricht in einem vollkommen anderen Bereich vorbereitet werden. Zwar könne man den Aufwand variieren und auch einfach eine Diskussion zum aktuellen Nachrichtengeschehen führen, so Lichtenegger, ein Zusatzaufwand für die Lehrer bleibt es trotzdem. „Das finden einige Kollegen nicht so toll“, gesteht er, „manche haben den Eindruck, man hat uns da ohne konkretes Konzept zu etwas verpflichtet, nach dem Motto: Mach mal!“
Überschaubare Materialsammlung des Kultusministeriums
Die Unterstützung durch das Kultusministerium ist bisher überschaubar. Man wolle über das Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung „ISB“ sukzessive geeignetes Material zur Verfügung stellen, heißt es aus dem Ministerium. Am Anfang des Schuljahres war die Materialsammlung aber noch dünn, heißt es aus den Schulen. Am Münchner Maria-Ward-Gymnasium hat man deshalb eine interne Fortbildung geplant. Geschichts- und Sozialkundelehrer bereiten fachfremde Kollegen auf die Verfassungsviertelstunde vor.
„Meiner Meinung nach ist es gerade in der heutigen Zeit einfach wichtig, frühestmöglich mit Demokratieförderung zu beginnen“, so Lichtenegger. Er hofft darauf, dass die Verfassungsviertelstunde in der Politik zu der Erkenntnis führt, früher mit dem Politik- und dem Gesellschaftsunterricht zu starten. „Schon die Jüngsten haben etwas zu sagen!“, findet er.
Chance zur Förderung des Demokratieverständnisses
Auch bei den Schülerinnen kommt die Verfassungsviertelstunde gut an. Sozialkunde sieht der Lehrplan erst ab der 10. Klasse vor, bis dahin will Sechstklässlerin Sofie aber nicht darauf warten, etwas über ihre Grundrechte zu lernen. Außerhalb der Schule findet das nämlich nur wenig statt: „Ich schau schon manchmal Nachrichtensendungen und spreche mit meinen Eltern darüber, wenn ich da etwas sehr interessant finde, darüber hinaus komme ich mit diesen Themen aber leider kaum in Kontakt.“
Deshalb ist die Verfassungsviertelstunde tatsächlich eine Chance, das Demokratieverständnis von Kindern und Jugendlichen früher zu fördern. Aktuell hängt es aber fast ausschließlich am persönlichen Engagement der Lehrer, ob diese Chance auch genutzt wird.
Korbinian Bauer
Podcast "MKR – das Magazin", Episode vom 23.10. Kapitelmarke "Verfassungsviertelstunde" ab 9:52 min.