Was ist eigentlich das Völkerrecht?
Die Juristin Angelika Nußberger (61) wird heuer mit dem Romano-Guardini-Preis der Katholischen Akademie in Bayern geehrt. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung würdigt eine Frau, die sich in Theorie und Praxis für die Stärkung des internationalen Völkerrechts einsetzt. Was es mit diesem Recht auf sich hat, erläutert die Preisträgerin exklusiv für innehalten.de.
Das Recht bestimmt den Rahmen des gesellschaftlichen Lebens. Allerdings gibt es nicht „ein“ Recht und nicht „einen“ Rahmen, sondern vielerlei Recht und damit viele unterschiedliche Rahmen. Für alle offensichtlich ist, dass das Recht die „kleinen“ Fragen des Alltags regelt, etwa, wo man parken darf und wo nicht, ob man eine Rechnung auch dann bezahlen muss, wenn man die bestellte Ware nicht bekommen hat, und wie viele Tage Urlaub im Jahr man hat. Es regelt aber auch Fragen von Staat und Gesellschaft, denen ein größeres Gewicht zukommt, etwa, wer bestimmen darf, wie Steuergelder ausgegeben werden, wer wen wann unter welchen Voraussetzungen wählen darf und wer die Armee befehligt.
Und schließlich gibt das Recht auch auf die wirklich großen Fragen Antworten, etwa, wie weit das Staatsgebiet reicht, wer als Staatsangehöriger Rechte und Pflichten hat, und wann der Einsatz von Gewalt im Verhältnis der Staaten untereinander erlaubt ist. Kommunalrecht, Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht, Völkerrecht – immer ist es Recht, immer ist es in der Struktur ähnlich. Und doch nicht gleich. Recht kann nah und fern, vertraut und fremd, verständlich und unzugänglich sein. Dabei bleibt es nie, wie es ist, sondern ist in ständiger Änderung begriffen.
Völkerrecht ist internationales Recht
Was das „Völkerrecht“ ist, will sich nicht unmittelbar erschließen, lässt sich doch in einer modernen, globalisierten Welt kaum verstehen, was ein „Volk“ ist – die Menschen, die auf einem bestimmten Gebiet leben, die Menschen, die dieselbe Staatsangehörigkeit haben, oder diejenigen, die dieselbe Sprache sprechen und sich zu einer bestimmten Kultur und Tradition bekennen. Als Woodrow Wilson als US-amerikanischer Präsident nach dem Ersten Weltkrieg das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ einforderte, schien der Begriff noch eindeutig zu sein. Aber heute? Einfacher wäre es, vom „internationalen Recht“ zu sprechen – wie im Englischen („international law“) und im Französischen („droit international“).
Ob „Völkerrecht“ oder „internationales Recht“ – in jedem Fall scheint es weit vom Alltag der Menschen entfernt zu sein. Am ehesten taucht es in den Zeitungen auf und wird zum viel diskutierten Thema, wenn die völkerrechtlichen Regeln nicht eingehalten werden. Die USA und die „Koalition der Willigen“ marschieren im Irak ein – nichts geschieht, niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Russland fällt mit seiner Armee in der Ukraine ein und zerstört Landstriche und Städte, bringt Tod und Verwüstung – der Krieg geht weiter, auch wenn ihn 141 Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen als „völkerrechtswidrig“ verurteilen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ordnet in einer Eilentscheidung in einem von Südafrika gegen Israel gerichteten Klageverfahren auf der Grundlage der Genozidkonvention an, dass Israel seine Angriffe in Gaza nicht fortsetzen und die zivile Bevölkerung nicht weiter gefährden dürfe – die Waffen schweigen dennoch nicht. Völkerrecht erscheint so als zahnloser Tiger – Normen, Verträge, Resolutionen, in denen viel Wünschenswertes steht, ohne dass es sich in die Wirklichkeit umsetzen ließe.
Fast alle Regeln werden eingehalten
Aber der Eindruck täuscht. Der amerikanische Völkerrechtler Louis Henkin hat das geflügelte Wort geprägt: „Almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time“ (fast alle Staaten halten fast alle Prinzipien des Völkerrechts und fast alle ihrer Verpflichtungen fast immer ein). Das Problem ist, dass der Befolgung der „kleinen Regeln“, etwa zur Erhebung von Zöllen, zur Ausstellung von Visa, zur Erteilung der Start- und Landeerlaubnis von Flugzeugen, kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, auch wenn dies jeden Tag in unendlich vielen Fällen geschieht. Dagegen werden Verletzungen der Grundprinzipien des Völkerrechts, insbesondere der Regeln zu Krieg und Frieden, auch wenn sie nur sehr selten sein mögen, in der öffentlichen Wahrnehmung als das allein Relevante angesehen.
Will man die tatsächliche Bedeutung des Völkerrechts richtig verstehen, muss man einen gewissen Realismus obwalten lassen. Den „ewigen Frieden“ zu sichern, so wie es Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift gefordert hat, ist zwar die erste und vornehmste Aufgabe des Völkerrechts. Aber ohne den guten Willen derjenigen, die an der Spitze der Staaten stehen, ist das Völkerrecht dazu nicht in der Lage, und dies auch dann nicht, wenn das Gewaltverbot in der von allen Staaten der Welt ratifizierten UN-Charta gleich am Anfang als Grundprinzip festgehalten ist.
Umweltverschmutzung, Artensterben, Klimakrise
Aber dennoch kann das Völkerrecht zu Frieden und Gerechtigkeit beitragen. Denn es bestimmt, wer Recht hat. Wer im Verhältnis zu anderen Staaten Gewalt ausübt, hat in aller Regel nicht Recht, es sei denn, er verteidigt sich gegen einen ungerechtfertigten Angriff. Wer einen Vertrag schließt und sich dann daran nicht hält, ist vertragsbrüchig und verstößt gegen seine völkerrechtlichen Pflichten. Die Staaten schließen Verträge, um die Artenvielfalt, die Meere und das Klima zu schützen – so ungenügend die Systeme auch sei mögen, eines ist sicher: Gäbe es all diese internationalen Schutzverträge nicht, wären Umweltverschmutzung, Artensterben und Klimakrise noch um ein Vielfaches schlimmer.
Das gilt auch für die Menschenrechte, die erst spät in der Geschichte, im Wesentlichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, Teil des Völkerrechts geworden sind. Zwar wird man weder mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder den universellen Menschenrechtspakten noch mit regionalen Menschenrechtsverträgen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention erreichen können, dass alle Menschen auch tatsächlich die Rechte, die ihnen zustehen, verwirklichen können. Immer noch werden Oppositionsführer willkürlich festgehaltenwerden, wird es Situationen geben, in denen Menschen Angst haben, ihre Religion zu bekennen, werden Frauen gegenüber Männern offen benachteiligt.
Völkerrechtliche Normen geben Orientierung
Aber wie Geschwindigkeitsbegrenzungen, die nicht verhindern können, dass Einzelne zu schnell fahren, und die doch erreichen, dass der Verkehr insgesamt langsamer und sicherer wird, so vermögen auch völkerrechtliche Normen bei den staatenübergreifenden Fragen Orientierung zu geben und die internationale Gemeinschaft so zu gestalten, dass statt eines „Krieges aller gegen alle“ (Thomas Hobbes) ein„Miteinander“ möglich ist.
Angelika Nußberger