Genfer Konvention: Schutz für Zivilisten im Krieg
Nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs beschlossen die Staaten eine eigene Konvention zur Schonung von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten. Seit 75 Jahren existiert die Vierte Genfer Konvention. Doch Geschichte und Gegenwart zeigen, wie brüchig diese Regeln sind.
Kriege sind so alt wie die Menschheit. Aber erst einen Wimpernschlag der Geschichte ist es her, dass die Schonung unbeteiligter Zivilisten internationales Gebot wurde. Vor 75 Jahren verabschiedet, ist die Vierte Genfer Konvention heute ein Hoffnungsstrahl für zwei Milliarden Menschen weltweit, die in Konfliktregionen leben.
Es geschah noch im Schatten des Zweiten Weltkriegs, dass der Schweizer Bundesrat Vertreter von rund 70 Regierungen und Organisationen in Genf zusammenrief: Sie sollten die völkerrechtlichen Schutzregeln überarbeiten, die sich angesichts der beispiellosen Gewalt als unzureichend erwiesen hatten. Nach mehrmonatigen Beratungen unterzeichneten am 12. August 1949 die ersten 18 Staaten vier Abkommen – darunter jenes „über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“. Es gilt als wichtigste Neuerung.
Soldaten verendeten buchstäblich
Schon früher gab es Vereinbarungen für verwundete Soldaten, maßgeblich angestoßen von Henry Dunant (1828–1910). Er hatte 1859 auf dem Schlachtfeld von Solferino erschüttert sehen müssen, wie Soldaten buchstäblich verendeten. Sein Vorschlag: Verwundete und Kranke im Feld sollten unterschiedslos Hilfe erhalten können. Die daraus entstandene Konvention von 1864 zählt zu den ersten Bemühungen, „Regeln für eine bis dahin fast regellose Situation“ zu schaffen, so der Gießener Völkerrechtler Thilo Marauhn.
Der Zweite Weltkrieg mit seinen millionenfachen Opfern unter der Zivilbevölkerung machte die Dringlichkeit einer Anpassung deutlich. Neben kampfunfähigen Soldaten und Kriegsgefangenen, von denen die ersten drei Genfer Abkommen handeln, nahm man nun auch Zivilpersonen in den Blick: Auch sie sollten, sofern unbeteiligt am Konflikt, „unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden“.
Anspruch auf Achtung der Person
Plünderungen, Vergeltungsmaßnahmen und Geiselnahme sowie Erpressung von Informationen sind verboten; Zivilisten haben Anspruch auf Achtung ihrer Person, familiärer Bindungen, ihrer Religion und Lebensart. Kinder und Frauen stehen unter besonderem Schutz. Deportation und Zerstörung von Privateigentum ist untersagt; vielmehr muss die Besatzungsmacht für die Versorgung mit allem Lebensnotwendigen Sorge tragen. Krankenhäuser dürfen nicht angegriffen werden.
Auch wenn die Konvention mittlerweile von 196 Staaten ratifiziert ist, man sie durch Zusatzprotokolle ergänzt und durch neu geschaffene Organe wie den Internationalen Strafgerichtshof untermauert hat – ihre Geschichte ist „nicht nur eine Erfolgsgeschichte“, meint Hendrik Simon, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt.
Zunahme asymmetrischer Kriege
Immer wieder wurde das Abkommen eklatant missachtet, in jüngerer Zeit etwa im Irakkrieg 2003, in Syrien oder in der Ukraine. Die getöteten Zivilisten gehen in die Hunderttausende. Zu den Gründen zählt laut Simon auch eine Zunahme „asymmetrischer“ Kriege zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren: Letztere unterlassen etwa eine klare Kennzeichnung als Kämpfer, verüben gezielt Terrorakte oder missbrauchen Zivilisten als Schutzschilde – wie die Hamas in Gaza. „Staatliche Akteure wiederum nutzen den ,Kampf gegen den Terror‘ als Rechtfertigung, um massivste Gewalt auszuüben“, sagt Simon.
Aus Sicht der Experten darf daher weder die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts noch seine Durchsetzung stehenbleiben. Das betrifft aktuell unter dem Schlagwort „urban warfare“ die Kriegführung in dicht besiedelten Gebieten: Hier ist mitunter schwer abzuwägen, bis zu welchem Maß zivile Opfer als „in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil“ stehend zu bewerten sind, meint Marauhn, der auch der internationalen humanitären Ermittlungskommission für solche Fragen angehört.
Es bräuchte neue Regeln
Simon verweist zudem auf hybride Kriegführung, Cyberattacken und autonome Waffensysteme – und die damit verbundenen moralischen und rechtlichen Fragen nach der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten. Obwohl es neue Regeln bräuchte, findet Simon „eine tiefgreifende Fortentwicklung des Humanitären Völkerrechts heute angesichts der globalen und regionalen Konfliktlinien deutlich unwahrscheinlicher“ als 1949.
Für Marauhn wäre viel gewonnen, wenn die Staaten das bestehende Völkerrecht innerstaatlich umsetzten und dafür sorgten, dass die Streitkräfte sich an die Regeln halten. Rechtsverletzungen mag es geben; das allein „sagt nichts darüber aus, ob das Recht als solches respektiert wird oder nicht“, so Marauhn. Wichtig sei, wie die Staatengemeinschaft mit diplomatischen und rechtlichen Mitteln darauf reagiere. Hier geht es nach seiner Auffassung „nicht nur um einen rechtlichen, sondern auch um einen politischen Prozess“.
Aber warum eigentlich sollten Regierungen ein Gebot der Menschlichkeit befolgen, das kein Gericht der Welt mit Zwang durchsetzen kann? „Weil es für das Zusammenleben auf dem Planeten wichtig ist, dass man sich an bestimmte Regeln hält“, meint Marauhn. „Das verstehen die meisten Staaten irgendwann – leider oft nicht schnell genug.“
(Burkhard Jürgens, KNA)