Und Hedi springt

Hedi Wetzlaff gibt nicht auf. Nach der lebensgefährlichen Flucht aus Pommern macht sie sich kurz nach dem Kriegsende aus dem dänischen Flüchtlingslager Oksbøl, in dem sie sich in den Offizier Hans verliebt und von ihm schwanger wird, auf die Fahrt in die britische Besatzungszone. In Wipperfürth im Bergischen Land will sie bei entfernten Verwandten unterkommen. Doch für die junge Frau gibt es keinen Platz im Haus - und für eine ledige Mutter keine Aussicht auf eine Arbeit und ein Zuhause für sie und ihren Sohn Sigi. Bis sie der schillernde Kleiderfabrikant Alfons Müller kurzerhand im Büro anstellt und Hedi bei der Prostituierten Anna und dem Landsmann Georg menschliche Wärme und Freundschaft findet. - Auf plastische Art verwebt Tom Saller die Lebensgeschichte seiner Großmutter mit der Biografie des Textilunternehmens Alfons Müller. Hedi wird Müllers persönliche Assistentin, wirkt an der Umsetzung seiner unkonventionellen Vertriebsideen mit. Müller lässt Anzüge in Massenproduktion schneidern, was die Stückpreise senkt und die Konkurrenz staunen und wütend werden lässt. Entlang des ungeheuren Geschäftserfolgs mit den konfektionierten Ein- und Zweireihern schreibt der Autor auch an der Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit mit der kollektiven Verdrängung der NS-Zeit: "Tatsächlich machen Müllers Kleidungsstücke gleich und gleicher, erlauben es, in der Masse unterzutauchen, ohne aufzufallen. Wer mag schon an gestern erinnert werden, an das Feldgrau seiner Wehrmachtsuniform, das zweckmäßige Braun des SA-Rocks oder das elegante Schwarz des Dienstanzugs der SS?" Das Tempo des wirtschaftlichen Aufstiegs in den 1950er Jahren kann allerdings nicht über die Beharrungskräfte der alten NS-Kameradschaften in den politischen Kreisen, die Fremdenfeindlichkeit und die Wirksamkeit traditioneller Rollenbilder hinwegtäuschen - das bekommen sowohl Hedi als auch Müller zu spüren.