Interview
Warum sind Jugendliche oft einsam?
Jugendliche sind gut vernetzt, sei es in der Schule, im Studium oder über soziale Netzwerke. Trotzdem fühlen sich viele einsam. Im Interview erklärt Sozialpädagoge Raphael Schütz die Gründe, den Einfluss der Pandemie und welche Schritte aus der Einsamkeit helfen können.
Jugendliche sind über die Schule, die Ausbildung oder ihr Studium gut vernetzt. Warum sind viele von ihnen trotzdem einsam?
Sie sprechen da den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein an. Alleinsein bedeutet erst mal, wenige Kontakte zu haben, und ist relativ neutral. Während Einsamkeit ein subjektives und schmerzhaftes Gefühl ist. Unter anderem, weil man sich mehr oder auch intensivere Kontakte wünscht. Das heißt:
Nicht jeder, der allein ist, ist automatisch auch einsam – und nicht jeder, der einsam ist, ist automatisch allein.
Man kann auf einer Party unter vielen Menschen also einsam sein?
Genau, zum Beispiel, weil man in den Gesprächen keine Nähe spürt und sich insgesamt nicht verstanden fühlt. Diese emotionale Einsamkeit spielt gerade im Jugendalter eine Rolle. Sich in Gruppen einsam zu fühlen, kann sogar noch schmerzhafter sein, weil man sieht, dass andere keine Distanz zueinander haben. Man sieht, was möglich wäre.
Was können Einflüsse sein, die bei Jugendlichen zu Einsamkeit beitragen?
Hier werden viele verschiedene Faktoren diskutiert. Zusammenfassend ist es wohl ein Wechselspiel an biologischen, psychologischen und sozialen Bedingungen. Darunter zum Beispiel eine genetische Veranlagung, Schüchternheit, ein geringes Selbstwertgefühl, geringe soziale Unterstützung und geringe finanzielle Möglichkeiten. Bei manchen Aspekten stellt sich noch die Frage, was Ursache und was Folge ist.
Wirkt sich die Corona-Pandemie noch darauf aus, ob Jugendliche sich einsam fühlen?
Auf Basis unserer Studien lässt sich das noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist naheliegend. Einmal wegen der Isolation, durch die Bedürfnisse nach Nähe, emotionalen Beziehungen, Verständnis, Liebe und Umarmung nicht erfüllt werden konnten. Aber es war ja auch eine sehr belastende Zeit wegen der Sorgen, die man sich gemacht hat.
Welche Sorgen meinen Sie?
Viele Jugendliche haben darunter gelitten, dass die Schulen geschlossen waren und dass ihre Jugend vorüberging, ohne dass sie viel erlebt hätten. Sie hatten Angst vor Konflikten mit ihren Freunden und Familien und wollten sich und andere nicht anstecken. Aber Jugendliche sorgen sich auch wegen der Klimakatastrophe, der Inflation, des Rechtsrucks und des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und des Nahostkonflikts. All diese Krisen können womöglich Gefühle der Hoffnungslosigkeit bedingen und so Einsamkeit verstärken.
Hilft Social Media gegen Einsamkeit oder befeuert es Einsamkeit eher?
Man könnte natürlich sagen, Medienkonsum fördert Kontakte, weil sich Jugendliche darüber kennenlernen. Für manche Menschen stimmt das. Es gibt aber auch Studien, die darauf hindeuten, dass Medienkonsum, Internetsucht und Einsamkeit zusammenhängen.
Inwiefern?
Es kann zum Beispiel dazu führen, dass sie sich weiter zurückziehen. Manche Jugendliche versuchen vielleicht auch ihre Einsamkeit zu betäuben, indem sie durch Social Media scrollen, und auf Instagram die vermeintlich schöne Welt der Anderen sehen. Die hätten sie vielleicht auch gerne. Dadurch kann eine Sehnsucht entstehen, die womöglich zusätzlich belastet.
Sind Jugendliche, die in einem armen Haushalt aufwachsen, eher einsamkeitsgefährdet als die, die aus wohlhabenden Verhältnissen stammen?
Ja, der sozioökonomische Status spielt eine Rolle. Wenn Jugendliche wenig finanzielle Möglichkeiten haben, können sie auch weniger am sozialen Leben teilhaben. Sie haben zum Beispiel kein Geld, um in einen Sportverein zu gehen, das Kino zu bezahlen oder mit Freunden in den Urlaub zu fahren.
Manche Studien zeigen, dass einsame Jugendliche eher an Verschwörungstheorien glauben. Woran liegt das?
Ja, das stimmt, das sind interessante Ergebnisse. Es ist jedoch schwierig zu sagen, ob die Einsamkeit eine Ursache dafür ist, dass Jugendliche antidemokratische Einstellungen entwickeln, wozu zum Beispiel zählt, an Verschwörungstheorien zu glauben. Es könnte auch sein, dass die Verschwörungsmentalität der Grund für die Einsamkeit ist oder dass ein dritter Faktor beides bedingt. Eine Hypothese ist, dass Jugendliche, die eher zurückgezogen sind und weniger Kontakte haben, womöglich empfänglicher sind für antidemokratische Gruppierungen und ihre Versprechen, um sich vernetzt zu fühlen. Aber damit würde ich nicht alle, die sich einsam fühlen, unter Generalverdacht stellen.
Raphael Schütz (34) ist Sozialpädagoge und promoviert an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg zum Thema Einsamkeit unter Jugendlichen. Er ist systemischer Traumatherapeut und hat als psychosozialer Berater in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet.
Würden Sie sagen, dass Einsamkeit für Betroffene nur negativ ist?
In der Fachliteratur hat sich die Übereinstimmung herauskristallisiert, dass Einsamkeit ein subjektives, schmerzhaftes, leidvolles Gefühl ist. Das würde auch Sinn ergeben, denn in der Evolution hat sich Einsamkeit als Warnsignal entwickelt, damit sich der Einzelne wieder der Gemeinschaft anschließt – und in der Gemeinschaft war die Überlebenswahrscheinlichkeit größer. Gemeinsam konnte man sich besser verteidigen, wärmen und Nahrung sammeln.
Heute müssen wir uns nicht mehr vor wilden Tieren verteidigen. Kann uns dauerhafte Einsamkeit trotzdem krank machen?
Es gibt viele Erkenntnisse darüber, dass Einsamkeit mit psychischen und physischen Erkrankungen in Zusammenhang steht. Zum Beispiel mit depressiver Symptomatik, psychosomatischen Beschwerden, einer höheren Suizidalität, aber auch mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Sterblichkeit. Wobei auch hier bei manchen Punkten die Frage bleibt, was Ursache und was Folge ist.
Das klingt, als ob Einsamkeit gefährlich ist.
Ich möchte Menschen, die einsam sind, keine Panik machen. Ich bin auch mal einsam. Es ist jedoch wichtig, sensibel für das Thema zu sein, damit man etwas dagegen tun kann.
Viele Jugendliche denken, dass sie es allein schaffen müssen, aus der Einsamkeit herauszukommen. Stimmt das?
Auch hier gibt es Ergebnisse, die das nahelegen. Ich bin aber kein Anhänger davon, Menschen die alleinige Verantwortung für Einsamkeit oder andere psychische Phänomene zuzuschreiben. Dafür sind die menschliche Psyche und Entwicklung zu komplex.
Was können andere tun, um einsamen Jugendlichen zu helfen?
Jeder kann zum Beispiel anfangen, den Menschen in seiner Umgebung aufmerksam und empathisch zu begegnen und zu fragen, wie es ihnen geht. Man kann andere unterstützen, ihnen Hilfe anbieten, sie versuchen zu integrieren. Weiterhin ist es wichtig, auch in der Schule ein positives Klima zu schaffen, das von Unterstützung, Wertschätzung, Interesse, Toleranz, Empathie und Partizipation geprägt ist.
Was können Jugendliche, die sich einsam fühlen, selbst tun?
Der erste Schritt ist, überhaupt wahrzunehmen, dass man vielleicht einsam ist. Dann kann es helfen zu schauen: Was habe ich für Ressourcen, und wie kann ich die stärken? Die eigenen Interessen helfen häufig, das Selbstwertgefühl zu stärken und Kontakte aufzubauen. Das kann bei dem Einen etwas Künstlerisches sein, beim Anderen Sport oder Schreiben, Gartenarbeit oder Backen. Vieles kann das Gefühl von Selbstwirksamkeit erfüllen – auch, anderen zu helfen, kann sich gut anfühlen. Und dann kann man schauen: Traue ich mich jetzt mit meinem aufgebauten Selbstwertgefühl raus in den Verein oder in den Leseclub?
Und wenn das nicht klappt?
Dann sollte man mit einer vertrauten Person reden oder sich
professionelle Hilfe suchen.
Einsamkeit ist keine Krankheit und nicht mit Depressionen gleichzusetzen. Aber wenn man das Gefühl hat, es hilft nichts, dann sollte man mit anderen darüber sprechen.