Krisen und Chancen
31.01.2025


Mentale Gesundheit

Warum wir Lebenskrisen neu bewerten sollten

Menschen stellen sich selbst psychische Diagnosen aufgrund von TikTok-Videos: Mentale Gesundheit ist mehr als ein Social-Media-Trend, mahnt Expertin Laura Wiesböck. Nicht jede Lebenskrise sollte pathologisiert werden.

Foto: © Javier/AdobeStock

"Cute but psycho" steht auf dem T-Shirt, "Anxiety" auf einer teuren Haarspange. Ein Mode-Gag, ein selbstbewusstes Statement - oder eine Grenzverletzung? Für manche Menschen mit einer psychischen Erkrankung könne es durchaus befreiend wirken, zu dieser Diagnose zu stehen, sie wie eine Art „ironisches Statussymbol" vor sich herzutragen, sagt Laura Wiesböck. Andere Betroffene empfinden genau dies als Hohn und würden viel dafür geben, nicht unter einer Einschränkung zu leiden, die als Merchandise-artiger Aufdruck verharmlost zu werden droht.    

Die Vermarktung psychischer Erkrankungen ist ein Aspekt, mit dem Soziologin Wiesböck sich in ihrem aufschlussreichen Buch „Digitale Diagnosen" befasst, das Ende Januar 2025 erschienen ist. Dass psychische Erkrankungen sichtbar gemacht werden und dass über mögliche Behandlungsmethoden aufgeklärt wird, sieht sie als „sehr willkommene Entwicklung". Eine zunehmende Entschlossenheit, jegliche Art von unangenehmen Gefühlslagen als krankhaft zu deuten, sei jedoch bedenklich.   

Healthism: Warum die Fixierung auf Gesundheit problematisch ist

Fachleute sprechen von „Healthism", wenn es um die Idee geht, dass Gesundheit das höchste Gut sei und das Individuum dafür verantwortlich – durch Selbstfürsorge, Vorsorge, eine stetige Optimierung etwa von Ernährung, Bewegung oder eben auch mentaler Verfassung. „Diese übermäßige Fixierung ist heute allgegenwärtig", schreibt Wiesböck; Apps und Tracker befeuerten die Erwartung, dass man das eigene Wohlergehen durchweg im Griff haben könne.    

Dabei stelle sich die Frage, was Menschen überhaupt unter psychischer Gesundheit verstünden, sagt Wiesböck im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). „Häufig gewinnt man den Eindruck, es gehe darum, dauerhaft ausgeglichen zu sein und Wohlbefinden zu verspüren." Dabei ließen sich unangenehme Gefühlszustände nicht verhindern, und emotionale Verletzungen seien „seit jeher ein Teil des Menschseins". 

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Nicht jede Lebenskrise ist eine Krankheit

Wie Weltschmerz oder Melancholie würden jedoch kaum noch genutzt. „Sie wurden überschrieben von pathologischen Kategorien", sagt die Forscherin. Ein solcher „Diagnose-Enthusiasmus" zeige sich etwa im Umgang mit Trauer. Seit 2022 beschreibt die Weltgesundheitsorganisation WHO eine „anhaltende Trauerstörung" als psychische Erkrankung. Schätzungen zufolge sind fünf Prozent aller Trauernden davon betroffen, sie können sich nicht von der Verlusterfahrung lösen.

Vorstellungen wie diese zielen stark auf Funktionalität ab, gibt Wiesböck zu bedenken, genauer gesagt: „Auf die Erhaltung von Funktionalität innerhalb eines Systems, das hohe Leistungsansprüche stellt." Dies verstärke die Vorstellung, dass persönliche Krisenzeiten einem emotional erfüllten Leben gewissermaßen im Weg stünden. „Die Frage ist, ob es nicht ein elementarer Bestandteil des Menschseins ist, die gesamte Bandbreite an Gefühlen zu erleben und zu durchleben."

Mental Health als Schutzschild: Wenn Diagnosen missbraucht werden

Zugleich dienten psychiatrische Diagnosen – oder Vermutungen darüber – bisweilen als eine Art Schutzschild. Menschen verhielten sich verletzend und rechtfertigten dies mit vermeintlichen Erkrankungen, beobachtet die Soziologin – vor allem in den Sozialen Medien. „So entsteht ein verzerrtes Bild von psychischen Belastungen, die tatsächlich nicht mit zwischenmenschlich schädlichem Verhalten einhergehen müssen." Auch eine ästhetisierte Darstellung – unter Schlagworten wie #SadGirl – könne den Druck auf Menschen mit einer schweren Depression erhöhen, die vielleicht nicht einmal die Kraft zum Zähneputzen hätten.

Der #mentalhealth-Trend führe jedenfalls nicht zu einer allgemeinen Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, so Wiesböck. Für Narzissmus oder Schizophrenie gebe es weiterhin wenig Mitgefühl. Umgekehrt versuchten Menschen, die sich wegen ineffizienter Handlungsweisen wertlos fühlten, „einen legitimen Raum herzustellen", wenn sie bei sich selbst ADHS vermuteten und sich damit von einer zugeschriebenen Verantwortung zu entlasten. ADHS-Videos boomen vor allem auf TikTok, wo sich Teenies tummeln. 

Mit einer Selbstdiagnose in die Praxen 

Junge Menschen sagten oft nicht mehr „ich habe Angst", sondern lernten, dass sie dann wohl eine Angststörung hätten, schrieb kürzlich die Zeitschrift „Psychologie Heute". Sie entdeckten Symptome an sich selbst – ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie schwerwiegend diese sein müssten, um nicht mehr alltäglich zu sein. Vor allem junge Leute kämen neuerdings schon mit einer Selbstdiagnose in Praxen von Psychiatern und Psychotherapeutinnen, ergänzt Wiesböck. Von einer Diagnose versprächen sich viele auch klare Handlungsmöglichkeiten – ob Medikamente oder Therapie.    

Es sollte indes nicht möglich sein, „dass gewinnorientierte Unternehmen nachweislich schädliche Produkte herstellen, die darauf ausgelegt sind, süchtig zu machen", mahnt die Autorin. Ob Vaping oder TikTok – es sei zynisch, hierbei an die Verantwortung Einzelner zu appellieren, schlicht weniger zu konsumieren. Und: Zwischenmenschlicher Trost und tiefe Beziehungen könnten darunter leiden, wenn Gefühlszustände wie Verletztheit, Sorge, Angst oder Traurigkeit als „Defekt" gelte, der von spezialisiertem Personal zu behandeln sei

Zum Weiterlesen
Wiesböck, Laura Digitale Diagnosen
Zsolnay-Verlag, 2025
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KNA
Artikel von KNA
Katholische Nachrichten-Agentur
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