People Pleasing
Über die Kunst, es nicht allen recht zu machen
Haben Sie heute im Lauf des Tages mal „Nein“ gesagt? „Nein, das schaffe ich heute nicht“ zum Kollegen, oder „Nein, das passt mir heute leider nicht“ zu einer Freundin? Gern tut man es ja nie, etwas ablehnen. Aber es gibt Menschen, die schaffen das schier überhaupt nicht, denn sie wollen es immer gerne allen recht machen. „People Pleasing“ nennt man das Phänomen auch. Eine Krisenberaterin kennt das Leidensbild, aber auch Wege zu mehr Selbstbestimmtheit.
Immer freundlich, hilfsbereit, nie auf Konfrontationskurs – solche Menschen sind angenehm für ihre Mitmenschen, aber immer häufiger finden sich Hinweise darauf, dass so eine Haltung viel Kraft kostet und nicht gesund ist. Wer es den anderen immer recht machen möchten, stellt die eigenen Bedürfnisse hintan. Sibylle Loew, Therapeutin und katholische Leiterin der Krisenberatungsstelle Münchner Insel, erlebt dort häufig Menschen, die dann irgendwann keine Kraft mehr haben für sich.
Oft merken sie sehr spät, dass jemand immer über ihre Grenzen geht, etwa im Beruf. Da wird noch ein Stapel auf den Tisch gelegt, vielleicht noch mit einer vermeintlich netten Bemerkung. „Es kommt der Punkt, an dem man in den Anforderungen ertrinkt und sich fragt: Wo sind denn eigentlich meine Grenzen, und was macht das mit mir?“, beschreibt die Krisenberaterin diese Situation.
Und die Nächstenliebe?
Ein Ohr zu haben für die anderen, Nächstenliebe und Empathie zu zeigen, das sind Eigenschaften, die in der christlichen Ethik weit oben angesiedelt sind. Das bekräftigt auch Sibylle Loew, aber nicht umsonst heiße es: „Liebe deinen nächsten wie dich selbst“, diesen zweiten Teil des Satzes dürfe man nicht außer Acht lassen. Auf Dauer führe die starke Orientierung an den Bedürfnissen der anderen nämlich in die Erschöpfung und oft zu großen Enttäuschungen. Dann hilft es auch nicht mehr, wenn die anderen zufrieden sind und sich in Lob ergießen.
Toxische Mischung in der Partnerschaft
In Paarbeziehungen finden sich nicht selten sehr ich-bezogene, narzisstisch veranlagte Menschen zusammen mit jemandem, der wenig auf das eigene Ich achtet. Sibylle Loew hat häufig Männer und Frauen vor sich, die so etwas in der Partnerschaft erleben: „Dieses Konstrukt, der eine ist der Großartige, der andere tut und macht, das geht eine Weile lang sehr gut, weil die Narzissten auch sehr charmant sind.“ Doch auf Kritik oder Grenzziehungen reagieren sie heftig: „Das kann dann schnell in eine Entwertung des Partners umkippen“. Eine bittere Erfahrung verbunden mit großem Leidensdruck, wenn ein Partner sich über die Maßen bemüht, dessen eigene Bedürfnisse aber gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Grenzen ziehen
Doch es gibt auch eine Situation, in der es oft schwer möglich ist, die eigenen Kräfte nicht überzustrapazieren: Die Zeit mit einem Säugling, der noch völlig auf die Mutter angewiesen ist. Bisherige Lebensgewohnheiten werden über den Haufen geworfen, Schlafmangel und die Sorge um das Kind fordern extrem. Alles tun für sein Kind – das ist wichtig. In der späteren Erziehung muss es aber auch lernen, andere zu respektieren und Grenzen zu akzeptieren, auch die der elterlichen Belastbarkeit. Sich förmlich aufzugeben für ein Kind oder aufzuarbeiten endet in der Enttäuschung, denn so die Therapeutin: „Wenn ein Kind machen und tun darf, was es will, dafür wird es nicht später die Mutter besonders schätzen, sondern diese Haltung schamlos ausnutzen.“ Sollte die sich irgendwann nicht mehr so nachgiebig zeigen, werde sie unter Druck gesetzt oder womöglich bedroht. „Die Mütter sind dann fassungslos“, schildert die Krisenberaterin. Klare Ansagen müssen die Grenzen markieren, deutlich machen, dass die Eltern das Recht haben, aus ihrer Fürsorgepflicht heraus Grenzen zu ziehen und dass sie Respekt verdienen.
Jetzt bin ich mal dran
Wie man sich aus einer Haltung befreien kann, die sich zu sehr nach den Erwartungen anderer richtet, das lässt sich einüben, weiß Sibylle Loew. Dazu muss man keine große Auseinandersetzung ausfechten mit Kollegen, der Chefin oder einer Freundin. Die Beraterin ermutigt dazu, sich die Kunst anzueignen, eigene Bedürfnisse auszusprechen: „Du jetzt kann ich grad nicht mehr. Ich bin gern bereit, wieder was für dich zu tun, aber hier brauche ich gerade etwas“. Ideal wäre es, auch den Wunsch nach Unterstützung konkret zu äußern: „Kannst du mir jetzt mal helfen?“ In solchen Gesprächen lassen sich Nähe und echte Wertschätzung für die eigene Person erfahren - und eben nicht dafür, was man für andere leistet.
Hilfreich sei auch die Frage nach den Konsequenzen, wenn man nicht das Gegenüber in den Mittelpunkt stelle, sondern die eigenen Wünsche und Bedürfnisse klar im Blick hat. Vor allem zu Beginn einer Beziehung sei der richtige Zeitpunkt dafür auch einmal zu äußern: “Das finde ich merkwürdig“ oder „Das gefällt mir nicht“.
Die Kunst, es nicht allen recht zu machen, sondern auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen, lässt sich also lernen. Krisenberaterin Sibylle Loew ermutigt dazu: „Es lohnt sich“, davon ist sie überzeugt.