Zukunft
01.07.2025

Vom Kriegsgebiet ins Klassenzimmer

In Syrien hat sie Kinder und Jugendliche unterrichtet, dann warf der Krieg ihr Leben aus der Bahn. Die syrische Christin Yara Arslan musste ihre Heimat verlassen. Doch in Deutschland gelang es ihr, ihren Traum zu verwirklichen. Sie fand einen Weg zurück ins Klassenzimmer.
    

Yara Arslan ist froh, dass sie in Deutschland wieder unterrichten kann. Yara Arslan ist froh, dass sie in Deutschland wieder unterrichten kann. Foto: © Boueke

Die Gartenzäune sind niedrig, die Vorgärten freundlich gestaltet, das meiste Gras ist ordentlich geschnitten. Doch auf manchen Wiesen wachsen die Halme wild und durchsetzt von bunten Blüten. In einem der Häuser dieser Mittelklasse-Nachbarschaft der ostwestfälischen Kleinstadt Löhne lebt die Syrerin Yara Arslan mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern. Die friedliche Atmosphäre steht in scharfem Kontrast zu der Realität, die die junge Mutter hinter sich gelassen hat. 2014 verließ sie ihre Heimat, obwohl sie dort ein erfülltes Leben geführt hatte. Sie war Lehrerin an einer Privatschule, unterrichtete Englisch, Mathematik und Arabisch.

Mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz erinnert sie sich an eine Zeit, in der Muslime und Christen in Syrien Nachbarinnen, Kollegen und Freundinnen waren. „Doch dann kamen die Bomben. Meine Stadt wurde fast zerstört. Der Islamische Staat übernahm die Kontrolle. Wir hatten Angst. Wir sind Christen“, sagt sie und blickt hinaus in den Garten, wo ihr Mann und seine Brüder gerade eine Terrasse anlegen. „Der Krieg hat das Gefühl von Vertrauen und Gemeinschaft zerstört“, stellt sie fest.

Christen sind gefährdet

Zwar ist die Lage in Syrien nach dem Sturz des Diktators Assad stabiler, als manche Beobachter erwartet hatten, doch das kann sich schnell ändern. Die neue Regierung von Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa bemüht sich um den Wiederaufbau, doch auch verschiedene Milizen und internationale Akteure ringen um Einfluss. Minderheiten sind weiterhin gefährdet, insbesondere Christen. „Heute fühlen wir uns in Syrien nicht mehr sicher“, sagt Yara Arslan mit trauriger Stimme. Die Zukunft ihrer Familie sieht sie in Deutschland. „Als ich hierhergekommen bin, wollte ich unbedingt wieder als Lehrerin arbeiten, so wie in meinem Heimatland. Mir war bewusst, dass der Weg lang sein würde.“

Ein ums andere Mal wurde sie enttäuscht. Sie erhielt Absagen und ihre Qualifikation wurde infrage gestellt. In dieser Zeit konnte sie stets auf ihren Mann zählen, den Betriebswirt Elias Abdu. Während einer Pause von der Arbeit im Garten sagt er: „Wir haben so viel Schlimmes erlebt. Wir haben den Krieg hinter uns gelassen. Im Vergleich dazu sind die Probleme hier in Deutschland nur Kleinigkeiten, nicht so schlimm.“ Er selbst hat in Deutschland zunächst in einem Schnellimbiss gearbeitet. „Parallel habe ich den Integrationskurs absolviert.“ Die Ausdauer zahlte sich aus. Heute ist er als Geschäftsentwickler eines transnationalen Unternehmens zuständig für die Märkte im Mittleren Osten.
   

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Herausforderungen der deutschen Bürokratie

Während ihr Mann Karriere machte, stellte sich Yara Arslan den Herausforderungen der deutschen Bürokratie. Zertifikate mussten anerkannt und immer neue Bewerbungen verschickt werden. Dann erfuhr sie von dem Programm „Lehrkräfte Plus“. „Das war ein sehr wichtiger Schritt“, betont sie. „Ein Jahr lang wurden wir qualifiziert. Danach bekam ich eine befristete Stelle.“

Das Programm „Lehrkräfte Plus“ entstand vor dem Hintergrund des starken Zuzugs Geflüchteter ab 2015. Ziel war es, Lehrerinnen und Lehrern, die in ihren Herkunftsländern bereits unterrichtet hatten, einen beruflichen Neustart an deutschen Schulen zu ermöglichen. Mittlerweile richtet sich das Qualifizierungsprojekt nicht mehr nur an Menschen mit Fluchterfahrung, sondern ist offen für alle international ausgebildeten Lehrkräfte. Sie absolvieren ein Jahr lang Kurse in Deutsch, Pädagogik und interkulturellem Lernen. Anschließend folgen ein umfangreiches Schulpraktikum sowie Beratung zu ihren beruflichen Perspektiven und Unterstützung bei Bewerbungen an Schulen.

„Die Klassenräume sind so schön gestaltet“

Yara Arslan kann sich noch gut an ihren ersten Besuch einer deutschen Grundschule erinnern. „So was hatte ich noch nie gesehen. Die Klassenräume sind so schön gestaltet, alles ist für die Kinder gemacht, die Stühle, die Tische. In Syrien waren viele Stühle kaputt oder unbequem. Außerdem ist Bildung hier fast kostenlos. In Syrien müssen die Eltern viel selbst bezahlen, auch wenn sie nur wenig haben.“

Als in Minden eine Stelle für herkunftssprachlichen Unterricht ausgeschrieben wurde, hat sich Yara Arslan sofort beworben. „Es gab viele Bewerberinnen und Bewerber. Mein Vorteil war die Erfahrung, die ich durch ,Lehrkräfte Plus‘ sammeln konnte. Deshalb habe ich die Stelle bekommen.“ An die Lernatmosphäre und den Geräuschpegel in der Grundschule musste sich die erfahrene Lehrerin erst gewöhnen. „Hier in Deutschland sind die Kinder in der Schule frei. Sie können offen ihre Meinung sagen. Das ist toll. In Syrien haben viele Angst vor den Lehrern. Im Unterricht sagen sie kaum etwas …“

Mehrsprachiger Unterricht

Seit drei Jahren arbeitet Yara Arslan an einer Grundschule. Besonders am Herzen liegen ihr die Integrationspädagogik sowie der mehrsprachige Unterricht, mit dem sie das Miteinander an der Schule fördert. „In meiner Klasse lernen die Kinder, dass Vielfalt wertvoll ist. Sie entdecken neue Sprachen und Traditionen. Es ist schön zu sehen, wie sie neugierig voneinander lernen.“

Auf dem Pausenhof mischen sich Kinderstimmen in verschiedenen Sprachen: Russisch, Albanisch, Kurdisch und Farsi sind nur einige davon. Yara Arslan hat Pausenaufsicht. Der kleine Siam aus Marokko freut sich, dass er ein paar Worte auf Arabisch mit ihr wechseln kann. „Frau Arslan ist die beste Lehrerin“, sagt er begeistert in flüssigem Deutsch. „In ihrem Unterricht machen wir viele coole Sachen – Spiele, Musik und alles mit verschiedenen Sprachen. Finde ich richtig gut.“

Ein Gewinn für die Schule

Auch die stellvertretende Schulleiterin Süreyya Bonitz sieht in der neuen Kollegin einen Gewinn für die Schule. „Bei uns gibt es schon lange viele Kinder mit Fluchterfahrung oder aus Familien, die aus anderen Ländern zugewandert sind. Viele sprechen anfangs kaum Deutsch. Früher hätten wir nie gedacht, dass wir mal Lehrpersonal einstellen können, das selbst in einem dieser Länder ausgebildet wurde.“

Süreyya Bonitz ist selbst Tochter türkischer Einwanderer. Sie betont, wie sehr sich Schulpolitik gewandelt hat. Heute ist es erklärtes Ziel, die Kollegien diverser zu gestalten, um der Vielfalt der Schülerschaft gerecht zu werden. Studien zeigen, dass dies nicht nur das Schulklima verbessern kann, sondern auch den Lernerfolg steigert. „Wenn Kinder Lehrkräfte bekommen, die Ähnliches erlebt haben, fühlen sie sich sicherer und verstanden. Ich beobachte oft, wie sich ein zunächst schüchternes Kind öffnet, weil es sich mit der Lehrkraft identifizieren kann.“


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Es mangelt an Lehrkräften

Jedoch mangelt es nicht nur an mehrsprachigen, sondern generell an ausreichend Lehrkräften. „Manche von uns müssen alle Fächer unterrichten, weil wir kein Fachpersonal bekommen“, erklärt Bonitz. „Oder der Unterricht fällt aus, weil die Stunden wegen des Lehrermangels nicht abgedeckt werden können.“

Die Integration von Yara Arslan sieht Bonitz als großen Gewinn, nicht nur für die Kinder, sondern auch für das Kollegium. „Sie sensibilisiert uns alle für das Thema Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt.“ Auch Yara Arslan selbst profitiert: „Im ersten Jahr habe ich in einigen Klassen unterstützt. So konnte ich beobachten, wie meine Kolleginnen den Unterricht gestalten. Das war sehr wertvoll für mich.“

„Für die Kinder eine große Bereicherung“

Eine dieser Kolleginnen ist Judith Schierholz. Sie bestätigt: „In meiner Klasse gibt es nur vier Kinder, deren Eltern beide Deutsch als Herkunftssprache sprechen. Ansonsten ist es sehr gemischt. Auch deshalb empfinde ich es als großes Glück, dass ich jetzt öfter dabei sein darf, wenn Yara unterrichtet. Für die Kinder ist sie eine große Bereicherung.“

Die zehnjährige Isha stimmt zu: „Ihr Unterricht macht großen Spaß. Es ist spannend, von anderen Kulturen und Religionen zu erfahren und neue Sprachen zu lernen.“ Yara Arslan bringt den Kindern Alltagsvokabeln, Grüße, Zahlen und kleine Gesprächssequenzen bei – immer auf Deutsch und Englisch, aber auch in vielen weiteren Sprachen. Das baut Sprachbarrieren ab und macht Neugier auf Vielfalt.

„Beispiel für gelungene Integration“

Natürlich vermisst Yara Arslan Syrien, aber eine Rückkehr kommt für sie nicht infrage. „Wir haben hier so viel erreicht. Ich habe meine Kinder in Deutschland zur Welt gebracht. Für sie wünsche ich mir eine gute Zukunft, ohne Krieg und ohne Armut.“ Es fällt ihr schwer zu sagen, sie sei stolz auf das Erreichte. „Aber ich glaube schon, dass meine Familie ein gutes Beispiel für gelungene Integration ist. Wir haben die Sprache gelernt, Arbeit gefunden, ein Haus gekauft und bemühen uns um ein gutes Miteinander mit Nachbarn und Kollegen. Was mehr kann man tun?“

Andreas Boueke