Reisetipp
Die heilige Insel Griechenlands
Die Kykladeninsel Tinos ist voller Kuriositäten und Überraschungen. Vor allem für kirchlich und kulturell Interessierte hat sie Spannendes zu bieten – zum Beispiel den wichtigsten orthodoxen Wallfahrtsort Griechenlands, katholisch geprägte Bergdörfer samt eigenem Bischofssitz und einen geheimnisvollen venezianischen Festungsberg.
Geografischer wie auch historischer Mittelpunkt der Insel Tinos ist der Felsberg Exómvurgo. Im kleinen Dorf Xinara an seinem Fuß befindet sich der Sitz eines katholischen Erzbistums. Foto: © Burghardt
Wenn Deutsche auf griechischen Inseln urlauben, dann tun sie das oft im Pauschalurlaub auf Kreta oder Rhodos, Kos oder Santorini, Mykonos oder Samos, Naxos oder Korfu. Flughäfen erlauben dort überall eine bequeme Anreise, und ein ausgeprägtes Hotelwesen sorgt für die Unterbringung der Sonnenhungrigen aus dem Norden. Nichts gegen die unbestrittene Schönheit der genannten Inseln – aber es geht auch individueller, ohne die Auswüchse des Massentourismus und sogar mit spiritueller Tiefe.
Zum Beispiel auf Tinos, einem knapp 200 Quadratkilometer großen Eiland, das zentral im ägäischen Meer liegt. Ferienunterkünfte und feinsandige Strände gibt es zwar auch hier. Aber keinen Flughafen. Und ohnehin wird die Insel wie keine zweite von einem speziellen Thema dominiert, das Partyfreunde, Nachtschwärmer und reine Badeurlauber eher irritiert: der Religion. Tinos gilt als die „heilige Insel“ Griechenlands. Das liegt vor allem an der berühmten Kirche Panagia Evangelistria, die neben dem Berg Athos in Nordgriechenland das wichtigste Wallfahrtsziel des Landes darstellt – eine Art „orthodoxes Lourdes“.
Auf allen vieren bewegen sich Pilger zur Kirche Panagia Evangelistria. Foto: © Burghardt
Pilger gehen in die Knie
Das viel besuchte Gotteshaus befindet sich in Tinos-Stadt, dem
Hauptort an der Küste, in dem jeder Inselbesuch beginnt und endet. Mit
der Fähre kommen die meisten Gäste vom Festland her aus dem Großraum
Athen angereist, manche Inselhopper auch vom benachbarten Mykonos – und
kaum ist man angekommen, da reibt man sich schon die Augen, wenn Frauen
und Männer neben einem in die Knie gehen. Das ist wörtlich zu verstehen,
denn wer es besonders ernst meint mit dem persönlichen Gebetsanliegen,
legt das letzte Stück der Pilgerreise, vom Hafen 500 Meter weit zur
Kirche hinauf, traditionell auf Knien rutschend zurück. Eine extra
Pilgerspur ist dafür mit einem teppichartigen Stoff und Verkehrshütchen
auf der Straße verlegt – aber dennoch wirkt es irritierend (und
lebensgefährlich), wenn sich Menschen im laufenden Verkehr auf allen
vieren zum Heiligtum hinaufbewegen und dabei auch seitliche Einmündungen
überqueren, aus denen Autos kommen.
Wundertätige Ikone
Oben erwartet einen dann nicht nur eine einzelne Kirche, sondern ein ganzer Gebäudekomplex mit Nebenkapellen, Museen und weiteren religiösen Einrichtungen – und natürlich unzählige Geschäfte in der Nähe, in denen man sich mit Devotionalien wie Heiligenbildchen und Weihrauch eindecken kann. Hauptziel der Wallfahrt aber ist die Kirche mit einer wundertätigen Ikone, der „Muttergottes von Tinos“.
Das Bildnis wurde im Jahr 1823 – mitten im griechischen Befreiungskampf von den Osmanen – an einer Stelle im Boden entdeckt und ausgegraben, von der die einheimische Ordensschwester Pelagia zuvor mehrmals geträumt hatte. Ebendort errichtete man sogleich einen ersten Kirchenbau, und eine Wallfahrt setzte ein, die bis heute die größte des Landes ist. Zu bestimmten Festen kommen tausende Pilger und versetzen die ansonsten beschauliche Insel in den Ausnahmezustand.
Doch das ist nur die eine, die griechisch-orthodoxe Seite von Tinos. Die andere ist der Katholizismus, der hier und auf der Nachbarinsel Syros so stark wie nirgendwo sonst in Griechenland vertreten ist. Das hat historische Gründe: Denn Tinos stand über ein halbes Jahrtausend lang unter venezianischer Herrschaft, die erst 1715 endete und dazu führte, dass bis heute etwa die Hälfte der Inselbevölkerung römisch-katholisch ist – während die griechischen Katholiken landesweit nur rund 0,5 Prozent ausmachen.
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Ein winziges Erzbistum
Bis heute legen die seit Menschengedenken hier ansässigen katholischen Griechen mit ihrer Konfession und oft auch mit ihren italienischstämmigen Namen Zeugnis von der venezianisch-lateinischen Vergangenheit der Kykladen ab. Und es existiert sogar ein eigenes kleines Erzbistum mit dem Namen „Naxos, Andros, Tinos und Mykonos“ – mit Sitz auf Tinos und einer insgesamt nur vierstelligen Zahl von Katholiken. (Zum Vergleich: Das Erzbistum München und Freising hat trotz ständigem Schwund noch immer rund 1,4 Millionen.)
Wer dieser Laune der Geschichte nachspüren will, der ist gut beraten, sich auf Tinos ein Auto zu mieten und auf eigene Faust die Bergdörfer zu erkunden, in denen der überwiegende Teil der katholischen Tinioten ansässig ist. Ohnehin existieren abgesehen von Tinos-Stadt kaum weitere größere Siedlungen an der Küste, denn im Inneren der Insel war man in früheren Jahrhunderten vor osmanischen Belagerungen und Piratenangriffen besser geschützt.
Weiß leuchtet das Dorf Pyrgos inmitten seiner kargen Umgebung. Foto: © Burghardt
Geheimnisvoller Festungsberg
Mittelpunkt von allem war und ist der zentral gelegene, steil aufragende Felsberg Exómvurgo, auf dem einstmals eine venezianische Festung thronte. Diese bildete über Jahrhunderte den schwer befestigten Hauptort von Tinos, und nach mehreren erfolglosen Eroberungsversuchen gelang es den Osmanen erst im Jahr 1715, die Festung einzunehmen und zu zerstören. Wenn es die im Sommer auch bei schönem Wetter heftig stürmenden Meltemi-Winde erlauben, sollte man als Reisender unbedingt einen Ausflug zum Berg Exómvurgo einplanen. Das direkt vor dem Gipfelaufbau gelegene Herz-Jesu-Kloster kann mit dem Auto angefahren werden, danach sind es nur noch gute zehn Minuten zu Fuß zum höchsten Punkt, während denen der Blick zwischen den Mauerresten der alten Festung und der sensationellen Aussicht über die Insel hin- und hergeht.
Die wohl größte Sehenswürdigkeit von Tinos aber sind die Bergdörfer. Gesehen haben sollte man vor allem den Ort Pyrgos: Mit seinen vielen eng aneinandergebauten weißen Häusern am Berghang und einem unübersichtlichen Gassenlabyrinth lädt er zu herrlichen Entdeckungsspaziergängen ein und bietet ein Fotomotiv nach dem anderen. Auch eine landesweit bedeutsame Bildhauerschule, ein Museum der Marmorkunst und ein vollständig aus weißem Marmor bestehender Friedhof mit „Osteotheken“ – oberirdischen Knochenbehältern – als vorherrschender Bestattungsform befinden sich in Pyrgos.
Malerischer Hauseingang im Dorf Pyrgos. Foto: © Burghardt
Pittoreske Bergdörfer
Doch auch die katholisch geprägten Dörfer rund um den Berg Exómvurgo lohnen einen Besuch: spektakulär etwa die kleine Siedlung Voláx inmitten einer Mondlandschaft von Granitfelsen; fotogen das auf einem Hochplateau thronende, weiß leuchtende Falatados; einfallsreich benannt die Siedlungen Aetofoliá („Adlernest“), Agapi („Liebe“) und Krokos („Safran/Eigelb“). Vielleicht am kuriosesten ist aber der Weiler Xinara, der laut Zählung von 2021 nur 18 dauerhafte Bewohner, aber den Sitz des katholischen Erzbistums mit Kathedrale und Bischofsresidenz sein eigen nennt, wobei Letztere auch als Rathaus der gesamten Insel dient!
Noch von vielem könnte man schwärmen: vom Wanderwegenetz, dessen historischen Pfade die Dörfer miteinander verbinden; von den kunstvollen steinernen Taubenschlägen, die über die ganze Insel verteilt in der Landschaft zu entdecken sind; von den Cafés und Tavernen mit ihren inseltypischen kulinarischen Köstlichkeiten; nicht zuletzt von den unzähligen Kirchen und Kapellen beider Konfessionen, die Tinos den Beinamen „Insel der tausend Kirchen“ eingetragen haben – und auch wenn die Zahl der Sakralgebäude diese Größenordnung nicht ganz erreichen sollte, so sind es auf jeden Fall mehrere Hundert.
Selbst an entlegenen Orten befinden sich kleine Kapellen, in denen immer jemand regelmäßig nach dem Rechten sieht. Foto: © Burghardt
Enge Gassen und Treppen
Für kirchlich Interessierte ist freilich auch der Besuch eines katholischen Gottesdienstes ein nachhallendes und für einen Griechenland-Urlaub außergewöhnliches Erlebnis. Zum Beispiel im kleinen Bergdorf Kardianí, das hoch über dem Meer am Steilhang klebt. Wie bei den meisten Dörfern muss man das Auto am Ortseingang stehen lassen; von dort führen dann nur schmale Gassen und steile Treppen weiter. Und wie selbstverständlich sind in jeder noch so kleinen Ortschaft mehrere Kirchen vorhanden. Während im Winter weniger als zehn ganzjährig anwesende Dorfbewohner in den Gottesdiensten anzutreffen sind, quillt die Hauptkirche an einem Festtag im Sommer regelrecht über – vor allem, wenn der Erzbischof kommt.
Eine der katholischen Kirchen im Dorf Kardianí. Foto: © Burghardt
Katholisch-orthodoxe Eintracht
Einige Impressionen aus der Messe: Beim Gemeindegesang stimmen alle
mit voller Kraft mit ein, es ist ein ungewohnt lauter, fast inbrünstiger
Gesang. Kinder tummeln sich auf der Treppe zum Altarraum. Die Kommunion
wird mittels Eintunken in beiderlei Gestalt ausgeteilt. Vor allem aber:
Auch zwei orthodoxe Priester sind in der ersten Reihe als Ehrengäste
mit dabei.
Während sie die Liturgie bis zum Ende passiv und
stumm mitverfolgen, passiert gleich im Anschluss etwas Überraschendes:
Es kommt zu herzlichen Umarmungen und Gesprächen zwischen den orthodoxen
und den katholischen Geistlichen, einer der beiden Schwarzgewandeten
küsst dem Erzbischof sogar mehrfach den Ring. Das scheint die wiederholt
gehörten Aussagen von Einheimischen zu bestätigen, dass auf Tinos ein
bemerkenswert gutes Miteinander der beiden Konfessionen herrscht – mit
regelmäßigen wechselseitigen Besuchen in den Gottesdiensten!
Von Gesang und Gebet und all den Eindrücken noch ganz überwältigt, tritt man dann beschwingt aus der Kirche und könnte fast meinen, man sei im Himmel: Fast 300 Meter unter einem liegt das Meer, die endlose silbergraue Fläche aus Wasser und Licht wirkt aus dieser Höhe wie durch einen Zauber erstarrt, während sich darüber Wolken in Windeseile türmen und ballen und wieder auflösen ...
Süßgebäck und Raki
Doch
aus den Träumen wird man schnell auf angenehmste Weise in die Realität
zurückgeholt: Ein neuvermähltes Paar spendiert Süßgebäck,
Gemeindemitglieder schenken Raki aus, den ortsüblichen selbst gebrannten
Schnaps – da lässt sich auch der Erzbischof gern ein Stamperl
schmecken. Und dann zieht die Festgemeinde unter die große Platane auf
dem Dorfplatz, wo es in typisch griechischer Art gesellig weitergeht,
mit Essen, Musik und stundenlangem Austausch von Neuigkeiten. Erlebnisse
wie dieses kann kein Katalog und kein Buchungsportal bieten.
Ein
gewöhnliches oder „pauschales“ Urlaubsziel ist Tinos also sicherlich
nicht. Und manche Reisenden, so munkelt man, waren noch gar nicht
abgereist, da haben sie schon Pläne geschmiedet, wann sie wieder einmal
hinfahren – auf die heilige Insel Griechenlands, mit ihren Stränden und
Tavernen, mit ihren Taubenhäusern und den tausend Kirchen …
Wissenswert
Tinos erreicht man mit Fähren von Piräus oder Rafina (beide nahe Athen) sowie von den Inseln Mykonos und Syros (beide mit Flughafen). Beste Reisezeit ist im Frühjahr und Herbst, im Sommer oft starke Winde. Sehr großes Touristenaufkommen rund um die orthodoxen Feierlichkeiten am 30. Januar (Auffindung der Ikone), am 25. März (Mariä Verkündigung), zu Ostern, am 23. Juli (Vision der hl. Pelagia) und v. a. am 15. August (Mariä Himmelfahrt). Auf der Website des katholischen Erzbistums gibt es auch Gottesdiensttermine: kantam.gr



