Bayerns Berge
Auf Spurensuche im Steinernen Meer
Das Steinerne Meer ist ein Gebirgsmassiv an der Grenze zwischen dem Berchtesgadener Land und dem Salzburger Pinzgau. Seine Besonderheit ist das bizarre, gut 50 Quadratkilometer große Felsplateau – ein utopischer Ort, der die Menschen seit jeher fasziniert.
Die Literaten des 19. und 20. Jahrhunderts, die diese Landschaft mit eigenen Augen erblickt haben, konnten über ihr eindrückliches, manchmal auch aufwühlendes Erlebnis nicht schweigen. In ihnen hat es rumort; sie mussten wieder und wieder nachdenken über jene eigentümliche Bergwelt, die sich an der letzten, entferntesten Ausbuchtung des bayerischen Gebiets hinein ins Salzburgische aufwölbt. Und sie mussten aufschreiben und festhalten, was sie da gesehen hatten und was so völlig anders war als die geordnete Welt des Alltags, die Kulturlandschaft, die städtischen und ländlichen Gefilde des Tals: das Steinerne Meer.
Franz Carl Weidmann charakterisierte das Gebirgsmassiv am Schnittpunkt des Berchtesgadener Landes mit dem Pinzgau und dem Pongau 1845 als „Felsentheater der wunderbarsten Art. Hügel an Hügel, von Kalkgestein, kahl und schroff, wirklich gleich den Wellen eines zu Stein verwandelten stürmischen Sees. (...) Das Ganze gewährt den Eindruck einer überaus ergreifenden wüsten Öde.“ Der Ire John Ball, erster Präsident des britischen Alpine Club, hielt 1868 Dramatisches fest: „Die Hochfläche ist absolut nackt und still wie ein Grab; eine so vollkommene Wüste wie vielleicht kein anderer Ort auf der Erdoberfläche ...“
Wie ein versteinerter Ozean
Für Herman Schmid wirkte das felsige Plateau 1873 „wie ein mitten im wütendsten Sturm durch einen Zauberschlag versteinerter Ozean“, während Carl Maria Baumwolf 1890 dort „eine Welt ewiger Erstarrnis und überwältigender Öde“ erblickte. Erika Schwarz dichtete in den 1930er-Jahren: „Stundenweit erstreckt sich die verkarstete Fläche, auf und ab, ein silbriges Grau, flimmernd, verwirrend, todeseinsam“, und auch als das sprachliche Pathos jener Zeit bereits Vergangenheit war, schrieb Hellmut Schöner 1969 immerhin noch von einer „einmaligen, in sich geschlossenen und in den ganzen Ostalpen ihresgleichen suchenden Welt“. Doch was war es, was sie alle so in den Bann geschlagen hatte?
Eine entlegene, nur unter Mühen erreichbare Hochfläche, unfruchtbar und ohne Bodenschätze, felsig-schroff und stellenweise so zerklüftet, dass man keine fünf Meter geradeaus gehen kann – das Steinerne Meer drängt sich nicht gerade als Ort guten Lebens auf. Dennoch wagte sich der Mensch immer wieder auf jenes größte und dritthöchste unter den neun Bergmassiven der Berchtesgadener Alpen. Er weidete Tiere und erforschte Blumen, schlug Holz und grub nach Enzianwurzeln, legte Wege an und jagte, bestieg Gipfel und erkundete Höhlen, pilgerte auf Wallfahrtswegen und schmuggelte Waren, baute Hütten, fuhr Ski. Für die surrealen Felslandschaften, aber auch für die Urwälder, Wasserstellen und Wiesenflecken, die er dort entdeckte, musste er Namen finden. Und er nannte sie Bärenloch, Wunderquelle, Himmelreich, Rosengrüebl, Tanzplatzl, Schönflecken, Saugasse, Toter Hund und Kleiner Hundsschädel. Die öde Hochfläche aber – und mit ihr das ganze Gebirgsmassiv – taufte er in widersprüchlicher und zugleich genialer Weise auf das genaue Gegenteil eines Gebirges. Er nannte sie Steinernes Meer.
Weidewirtschaft und Holzgewinnung
Die Ersten, die hinaufstiegen, näherten sich vor über 2000 Jahren von Süden, aus dem Pinzgau. Sie erkundeten eine gangbare Aufstiegsroute, trieben ihr Vieh auf die Hochfläche und wurden zu hochalpinen Almbauern. Ganz anders auf der heute von Millionen Touristen umspülten Nordseite des Gebirges, wo erst nach der Gründung des Stifts Berchtesgaden im 12. Jahrhundert Menschen systematisch vom Königssee her vordrangen und eine Alm nach der anderen anlegten, ein Dutzend insgesamt. Später kam eine zweite Nutzungsform hinzu, die Holzgewinnung, im Zuge derer ganze Berge rund um den Königssee kahlgeschlagen wurden.
Die Bedeutung der alm- und forstwirtschaftlichen Aktivitäten kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Denn die bodenschädigende Beweidung kleinster Grasflächen, die Rodung der Wälder und die sinkenden Temperaturen im Zuge der „Kleinen Eiszeit“ vom 15. bis ins 19. Jahrhundert waren es, die zur Absenkung der Vegetationsgrenze, zu fortschreitender Verkarstung und zum heutigen Aussehen des Steinernen Meers führten, dessen Hochfläche einstmals viel grüner, fruchtbarer, in weiten Teilen sogar bewaldet gewesen war.
Jahrhundertelanger Existenzkampf
Ein Flurname erzählt von diesem Wandel: „Verlorene Weid“ heißt noch heute eine Gegend auf 1.950 Metern Höhe, wo einst das Vieh graste, bis irgendwann kein Gras mehr da war (siehe Foto S. 24). Und weil das kein Einzelfall war, wundert es nicht, dass der Begriff „Verlorene Weid“ sich zum Namen für das gesamte Gebirge entwickelte und noch 1734 in einem Vertrag zwischen Berchtesgaden und Salzburg neben der heutigen Bezeichnung „Steinernes Meer“ steht. Ein Meer aus Stein, eine verlorene Weide – diese beiden Gebirgsnamen beschreiben die poetisch-tragische Essenz eines jahrhundertelangen Existenzkampfs in einem Randbereich menschlicher Zivilisation.
Ein weiteres Beispiel für den Versuch, die Kontraste dieses Daseins ins Wort zu bringen, ist die völlig abgeschieden genau in der äußersten südöstlichen Spitze Bayerns gelegene Wildalm: Sie ist, auch namentlich, „wilde Alm“, Wildnis und Kulturlandschaft zugleich. Und das Ebenhorn, die Hochscheibe und der Pflaumpalfen – drei unmittelbar nebeneinander gelegene Erhebungen im bayerischen Teil des Steinernen Meers – vollziehen mit ihren in sich widersprüchlichen Namen dreimal exakt denselben Begriffsspagat: „eben“ und „Horn“, „hoch“ und „Scheibe“, „Pflaum-“ (wohl von lat. planus = eben) und „Palfen“ (senkrechter Felsen) – das ist der fast schon obsessiv wiederholte Versuch, eine Landschaft zu beschreiben, die vertikal und flach zugleich ist. Der Mensch, der in dieser unwirtlichen Welt immer nur saisonaler Gast, nie ganzjähriger Bewohner war, rang auf dem kargen Boden nicht nur um sein physisches Überleben, er rang auch um Worte.
Sagen und Schauergeschichten
Wenn abends in der engen, rauchigen Almhütte das Feuer im Ofen knisterte, erzählte man sich Sagen und Schauergeschichten – die natürlich auch ihren Weg ins Tal fanden und Eindruck machten: „Plötzlich bricht es los, es wettert und stürmt und heult auf den Höhen der Wildalm, wie wenn alle Mächte der Hölle los wären, Bergraben kreisen um das Wildalmkirchl und das Vieh stürzt mit Brüllen in Schlünde und Abgründe.“
Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich ausgerechnet im offenen, unregulierten, von menschlichen Träumereien und Grenzerfahrungen durchwirkten Raum der felsigen Hochfläche eine der größten katholischen Wallfahrten in weitem Umkreis etablierte: die „Almer Wallfahrt“ von Maria Alm übers Steinerne Meer nach St. Bartholomä, auch „Barthlmä-Gehen“ genannt. Ihre Ursprünge liegen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als im Pinzgau die Pest schlimm wütete und die Überlebenden zu einem Gelübde drängte. Bis heute ziehen jedes Jahr um den Bartholomäus-Tag am 24. August zahlreiche Wallfahrer bereits zu nächtlicher Stunde mit Priester und Blaskapelle los, steigen zur Hochfläche auf, feiern morgens einen Gottesdienst und wandern dann durch die Felswildnis auf die bayerische Seite und bis nach St. Bartholomä am Königssee. Ein eindrucksvoller Anblick, bei dem auch ein hintergründiges biblisches Narrativ mitschwingt: Bildet dieser mühsame Gang der Tausenden nicht eine verblüffende Parallele zum alttestamentlichen Marsch der Israeliten durch die Wüste? Aus der dunklen Nacht (Ägyptens) ziehen die Wallfahrer durch das (Steinerne) Meer und wüstenhafte, gebirgige Weiten, bevor im Tal des Königssees üppiges Grün und frisches Wasser Leib und Seele erquicken …
Jäger, Schmuggler, Deserteure
Spuren hinterlassen hat auch die Jagd. Einerseits rottete der Mensch ganze Tierarten aus: bereits im Mittelalter den Steinbock; in den 1820er-Jahren wurde der letzte Luchs wie auch der letzte Bär erlegt, 1836 der letzte Wolf. Andererseits haben sich die Erfahrungen aus alter Zeit bis heute in Form von Berg- und Flurnamen wie Gamskar, Hirschwand und Bärenloch erhalten. Eine weitere Nutzung des Steinernen Meers setzte um 1600 ein, als man anfing, Enzian, Meisterwurz und Wacholder zu gewinnen – die ab 1692 dann auch gleich vor Ort zu Schnaps gebrannt wurden. Und auch Schmuggler von Tabak, Salz, Baumwolle oder Waffen, Wilderer und Deserteure nutzten das entlegene Hochplateau immer wieder als Transitroute oder Unterschlupf.
Aber erst als Fauna und Flora längst von menschlicher Hand umgeformt waren, als Sennerinnen und Hütebuben, Holzknechte und Enzianbrenner, Jäger, Wallfahrer und zwielichtige Gestalten bereits auf eine jahrhundertelange Kulturgeschichte zurückschauen konnten, erst dann begann im 19. Jahrhundert die moderne Zeit: Gelehrte mit wissenschaftlichem Interesse und Bergsteiger mit Gipfelambitionen (oder solche, die beides zugleich und nicht selten obendrein Geistliche waren) machten sich voller Neugier ins Steinerne Meer auf. Vermessungsoffiziere erkundeten das Gelände und zeichneten Landkarten, wagemutige Pioniere erstiegen die Gipfel, Botaniker gingen auf Blumensuche, und ab 1875 erschlossen alpine Vereine das Gebirge mit markierten Wegen und bewirtschafteten Hütten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis heute folgte dann noch die Erforschung der „Unterwelt“ des Steinernen Meers: Hunderte, teils kilometerlange Höhlen bergen jede Menge Geheimnisse, von unterirdischen Seen über gefrorene Wasserfälle bis hin zu Knochen von steinzeitlichen Höhlenbären.
Trostlose Öde und endlose Steinwüsten
Die Erkundung der Höhlen ist freilich wenigen Fachleuten vorbehalten, doch der Gang über die bizarre Felslandschaft der Hochfläche steht jedem Wanderer offen, der zwei Tage Zeit und etwas Bergerfahrung mitbringt. Noch heute elektrisiert dieses Erlebnis wie eh und je, und während die einen dabei staunend verstummen, ziehen die anderen alle Register der Sprache, um zu beschreiben, was sie gesehen haben – wie diese kleine Blütenlese aus der Literatur zeigt: „ein faszinierendes, schier unglaubliches Durcheinander von schräggeschichteten Platten, zersprengten Kalktrümmern, ein ewiges Auf und Ab“ – „Talungen, Höcker, Buckel, Riffe, Grasbänder, Senken“ – „ein chaotisches Felsenmeer mit unzähligen Spitzen, Zacken, Gräten, Schneiden“ – „ein einziges Gewoge von Unebenheiten, emporstrebenden Buckeln, Hörnern, Schneiden und langgestreckten Kämmen, die nach allen Richtungen von Schluchten, Spalten und Kesseln durchzogen werden“ – „regelloses, wellenförmiges Hügelland“ – „gewaltige, nackte, von Karren zerrissene Hochfläche“ – „Klippengewirre“ – „Karstspektakel“ – „trostlose Öde“ – „endlose Steinwüsten“ – „durcheinander gewundene Grate, Einkesselungen, Furchen und Rippen, dem Leichenfeld einer Generation versteinerter Riesenthiere vergleichbar, deren gebleichte Rückenwirbel aus der Fläche aufragen“ – „einem vom Sturm bewegten, plötzlich erstarrten See ähnlich“ – „von ferne wie ein hochwogendes Meer anzuschauen, (...) von tiefen Spalten durchzogen und von zerbröckelten Felsblöcken überschüttet“ …
Aber was macht der Mensch immer dann, wenn er sich in der schrecklichsten Ödnis hoffnungslos zu verlieren droht? Mit einem einzigen heimeligen Gedanken vermag er doch noch alles ins Gute, Vertraute zu wenden: „Manchmal glaube ich, über den Rücken einer dicht gedrängten Schafherde zu laufen“, beschrieb Werner Mittermeier seinen traumwandlerischen Gang über das Felsenmeer. So tot kann ein Stein gar nicht sein, dass man ihn nicht mit zärtlichen Bildern und Worten zum Leben erwecken könnte.