Kultur und Wissen
16.04.2024

Pilgern

Jakobsweg: Zur Todesküste am Ende der Welt

Ein paar Sandstrände und viele grobe Steine prägen den geheimnisvollsten spanischen Küstenabschnitt: die Costa de la Muerte in Galizien. Weit westlich der Stadt A Coruña streckt er sich bis zum Kap Finisterre, das man im Mittelalter mit dem Ende der Welt gleichsetzte. Für viele Jakobspilger aber ist die gut eine Autostunde von Santiago de Compostela entfernte Küstenregion längst zum Sehnsuchtsort geworden.

Die „Küste des Todes“ bei Finisterre. Die „Küste des Todes“ bei Finisterre. Foto: © imago/Pond5 Images

Es ist ein Bild, das viele Seelen immer wieder aufs Neue berührt, wenn die Sonne langsam im Meer versinkt und der Atlantik den feurigen Ball verschluckt. Kein Wunder, dass die Costa de la Muerte schon früh die Menschen anzog. „Costa de Morte“ nennen sie die Einheimischen, Küste des Todes. Denn heftige Stürme und der im Winter oft zähe Nebel lassen immer wieder Schiffe am Ufer oder in seiner Nähe zerschellen. Hunderte von Schiffswracks zeugen bis heute davon, wie gefährlich es auf einer der meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt werden kann.   

Auf der anderen Seite ist es die Sonne, die entlang der Küste des Todes schon immer besonders genossen wird. Schließlich scheint sie hier, im äußersten Westen des Kontinents, oft länger als irgendwo sonst in Eruopa. Zu ihrer Anbetung stellten schon die Kelten Altäre wie am Kap Finisterre auf, dessen Wortwurzel, das lateinische „finis terrae“, auf das Ende der Welt verweist. Weit draußen im Meer verorteten sie zudem die Insel der Seligen. Eine von den Toten bewohnte Anderswelt, die sie gern „Land der Verheißung“ oder „Land der ewigen Jugend“ nannten. Nur mit Booten aus Stein, so ihr Glaube, seien sie zu erreichen.


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Apostelreise bis zur Atlantikküste

Auch im frühen Mittelalter machten die magischen Welten entlang der Costa de la Muerte von sich reden. Sie erzählten vor allem vom Apostel Jakobus, der nach der Himmelfahrt Christi zur Missionierung der Kelten an die Atlantikküste gereist sein soll, wo seine Reden aber meist auf taube Ohren stießen. Den enttäuschten Prediger habe schließlich die Gottesmutter persönlich getröstet, als sie mit einem Boot in der heutigen Ortschaft Muxía anlandete, um Jakobus ins Heilige Land zurückzuschicken. Es war eine Geschichte, wie man sie ähnlich auch im spanischen Saragossa erzählte, wo Maria dem Apostel ebenfalls erschienen sein soll.

Gewichtiger freilich war eine andere Legende, die zum Gründungsmythos des Kultes um den heiligen Jakobus wurde. Sie besagte, dass sein Leichnam in einem Schiff aus dem Heiligen Land durchs ganze Mittelmeer trieb und in einer der vielen Meeresbuchten Galiziens landete, von wo man ihn weiter ins Landesinnere geschafft und bestattet hat. Über dem freilich erst Jahrhunderte später entdeckten Apostelgrab in Santiago de Compostela steht heute eine der schönsten Kathedralen Spaniens.

Fortsetzung der Pilgerreise bis ans Meer

Genauer betrachtet waren alle diese Erzählungen die Arbeit theologisch gebildeter Influencer, die für die Reise in Spaniens äußersten Westen warben und Santiago zu einem der wichtigsten Pilgerorte der Welt machten. Die Weiterreise von dort bis ans Ende der Welt, an die Küste des Todes, offerierten sie den Pilgern sozusagen als Zugabe – als Bonus-Programm zur Öffnung neuer Sinneswelten. Denn anders als die oft baumlosen und kargen Landschaften entlang vieler Jakobswege war der Marsch zur kaum Hundert Kilometer vom Grab des Apostels Jakobus entfernten Costa de la Muerte ein Auf und Ab durch eine fast immer grüne Landschaft, die auch heute noch vor allem von Eukalyptusbäumen geprägt ist. Neue Hotspots der Pilger wurden so zwei Küstenorte, die ein eigener, mehr als 30 Kilometer langer Pilgerweg bis heute verbindet: Fisterra und Muxía, deren Leuchttürme heute genauso bekannt sind wie ihre Wallfahrtskirchen.

Schon früh verzahnte man in Muxía die Legende von der Ankunft der in Galizien als „Virxe da Barca“ bekannten Gottesmutter mit den an der dortigen Küste aufgetürmten Felsblöcken, die man als Trümmer des bei ihrer Landung zerschellten Schiffes aus Stein deutete. Für den Augsburger Reiseschriftsteller Sebastian Ilsung waren sie das größte Wunder, das er auf seiner Pilgerreise im Jahr 1446 gesehen hatte. Auch heute noch beeindrucken die riesigen Steinplatten vor der Wallfahrtskirche. 

Muxía: Wo die Gottesmutter einst anlandete

Publikumsmagnet ist ein „Pedra de Abalar“ („Stein zum Ausbalancieren“) genannter Felsbrocken, dem Volks- und Aberglaube magische Kräfte beimessen. Um ihn zu bewegen, hieß es in alten Pilgerführern und mittelalterlichen Reisebeschreibungen, müssten die auf ihm stehenden Menschen in der Gnade Gottes sein, was nichts anderes hieß als frei von Sünden. Inzwischen haben Winterstürme die steinernen Reste des angeblichen Schiffes der Muttergottes so fest in ihrem Umfeld verankert, dass auch auf ihr herumhüpfende Pilgergruppen sie nicht mehr aus dem Lot bringen.

Magische Kräfte werden auch dem benachbarten Steinblock „Pedra dos Cadris“ nachgesagt. In ihm will man das Segel des Schiffes sehen, mit dem die Muttergottes einst hier anlandete. Pilger können unter ihm durchkriechen, was Rückenschmerzen und Rheuma lindern soll – vorausgesetzt, man tut es im festen Glauben gleich neunmal nacheinander. Die Liebe soll eine als „Pedra dos Namorados“ bekannte Steinbank beflügeln, auf der man aber wenig bequem sitzt.

Schon früh lockte die Strahlkraft der Muttergottes erste Einsiedler nach Muxía. Aber erst Anfang des 18. Jahrhunderts, als die Zahl der Jakobspilger immer größer wurde, entstand ihr Heiligtum: das Santuário da Virxe da Barca. Ein Gotteshaus, zu dem man früher die letzten Meter gewöhnlich auf den Knien rutschte.  

Fisterra: Wo der Jakobsweg endet

Im Fischer- und Hafenstädtchen Fisterra erreichen die Jakobspilger gewöhnlich den westlichsten Punkt Spaniens (auch wenn der streng geografisch 20 Kilometer weiter nördlich am Kap Touriñán liegt). Wie in Muxía steht auch auf der Spitze des Kap Finisterre ein Leuchtturm. Muscheln und andere Meeresfrüchte zählen zu den Delikatessen im Hotel-Restaurant zu seinen Füßen. Trampelpfade führen vom Leuchtturm zum Meer hinab, entlang derer bei gutem Wetter die Pilger sitzen und auf den Ozean hinausschauen. Ihre nach oft wochenlangen Wanderungen jetzt ausgedienten Schuhe und anderes, was sie auf ihrer Reise mühsam mitschleppten, lassen manche hier einfach in der Landschaft zurück.

Immer einen Stopp wert ist die romanische Kirche Santa María das Areas im Süden Fisterras. Es ist die westlichste Kirche auf dem europäischen Kontinent. Ein Gotteshaus aus dem 12. Jahrhundert, zur Erbauung der mittelalterlichen Pilger vollgestopft mit Heiligenfiguren. Am meisten Eindruck macht der „Santo da Barba Dorada“, der Heilige mit dem Goldenen Bart. Er zeigt Christus am Kreuz, einen Mann mit blutverschmierten Wunden. Haare, Nägel und Bart sollen ihm ständig nachwachsen, sagt der Volksmund, weshalb ihm auch manches Wunder zugeschrieben wird. Eines beschrieb der italienische Reisebuchautor Domenico Laffi anno 1673. Er erzählt von sarazenischen Piraten, die der Jesus von Fisterra zur Taufe bewog.

Der Heilige mit dem Goldenen Bart

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass der Bischof im spanischen Ourense die Christusfigur in Fisterra gestiftet habe. Glaubt man aber einer Legende, fand sie eher zufällig den Weg dorthin. So sollen sie Seeleute bei schwerem Unwetter einst ins Meer geworfen haben. Kaum aber war sie über Bord gegangen, legte sich der Sturm, was man in Fisterra als Zeichen Gottes wertete. Als Wink, dass der Heilige mit dem Goldenen Bart sich am Ende der Welt besonders wohlfühle.    

Sicher kein Zufall ist es deshalb, dass er jährlich am Ostersonntag groß gefeiert wird. Beim traditionsreichen Auferstehungsfest bringen ihm Tausende von Menschen Blumen und andere Geschenke. Die Feier symbolisiert nicht nur einen Neuanfang im göttlichen Leben, sondern auch einen Einschnitt für viele Pilger, die in Fisterra ihre Wanderung zum Apostel Jakobus beschließen. Einen Weg, der sie nicht nur ans vermeintliche Ende der Welt, sondern oft auch zu sich selbst geführt hat. (Günter Schenk)