Wie ein Mörder mit seiner Schuld umgeht
Walter L. wurde zum Mörder, woraufhin ihn das Gericht zu lebenslanger Haft verurteilte. Der Täter sagt, er habe bis dahin ein unbescholtenes Leben geführt. Ein Gespräch im Gefängnis über Schuld und Vergebung.

Walter L. steht vor dem Kalender und sagt: „6.5“. Noch sechs Jahre und fünf Monate. Dann hat er seine Strafe verbüßt und darf die Justizvollzugsanstalt Mannheim – vielleicht – verlassen. Walter L. hat einen Menschen getötet. Die Richter waren überzeugt, dass er heimtückisch handelte, und verhängten fast die Höchststrafe: lebenslänglich mit der Chance, nach 15 Jahren wieder in Freiheit zu gelangen. Walter L. heißt eigentlich anders; um ihn zu schützen, wurde sein Name geändert, Tat und sonstige Informationen wurden so weit anonymisiert, dass keine Rückschlüsse möglich sind.
Was macht das mit einem Menschen, der schwere Schuld auf sich geladen hat? Kann es Vergebung geben und wenn ja, von wem? Der Mensch, der das tun könnte, lebt nicht mehr. Darf oder kann der Täter sich selbst verzeihen? Oder braucht es dafür einen Gott?
52 Jahre lang unbescholten
Walter L. sagt, er habe 52 Jahre lang ein unbescholtenes Leben geführt. Er habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Doch dann kommt der eine Tag, der aus ihm einen Mörder macht. An einem Abend im Frühjahr nimmt er eine Waffe und erschießt einen anderen Menschen. Nicht einfach so, sagt er: „Das Ganze hat eine lange Vorgeschichte.“ Er sei an eine Belastungsgrenze gekommen, die er nie zuvor erlebt hatte. „Jeder Mensch trägt eine Grenze in sich, sagt die Wissenschaft.“ Aber er habe nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen. Weil er dachte, das wird schon wieder. So sei er immer gewesen; er habe vieles verdrängt – Frust, Ärger, Wut in sich reingefressen.
Walter L. weiß, dass das so klingt, als wolle er die Tat entschuldigen. Als läge zumindest eine Teilschuld bei dem Menschen, den er getötet hat. In einer seiner Akten, die Ärzte kurz nach der Tat über ihn angefertigt haben, steht: Walter L. sieht sich in der Opferrolle. Er hat das gelesen. Er sagt, das sei „reininterpretiert“. Als Opfer will er sich nicht sehen, aber er will auch nicht auf die Tat, diesen einen Tag, diese eine Sekunde, die es brauchte, um ein Leben auszulöschen, reduziert werden.
Aus dem Paradies vertrieben
Denn der Walter L., den er kennt, sei ganz anders. Er sei nie gewalttätig gewesen, er habe hart gearbeitet und beruflich Karriere gemacht, er sei immer korrekt gewesen. Walter L. hatte viel mit Zahlen und Bilanzen zu tun, die verzeihen keine Fehler. Er hatte Familie, Freunde, ein Haus, keine Schulden. Die Probleme beginnen, als dieses Leben auseinanderbricht. Der Gefängnispsychologe habe zu ihm gesagt, er sei aus dem Paradies vertrieben worden.
Walter L. muss von dort, was sein Zuhause war, ausziehen und fällt in ein tiefes Loch. Er hat Depressionen, ohne es wirklich zu wissen. Er gibt einen gut dotierten Job auf, weil er Angst hat, den hohen Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Er will nicht in einer Konferenz stehen und plötzlich stimmt eine Zahl nicht. „Von meinen Berichten und Exceltabellen hing ab, ob die Unternehmen und Arbeitsplätze weiterexistieren können.“
Die Situation war apokalyptisch
Nur langsam findet er zurück ins Licht. „Mein bester Freund war der Schlaf“, sagt Walter L. Doch am nächsten Morgen sei es ja weiter gegangen, der öde Alltag, das Paradies unerreichbar. Walter L. sagt, er habe die Situation als apokalyptisch empfunden. Dies sei keine Entschuldigung, aber eine Erklärung für das Unerklärliche. „So eine Tat fällt ja nicht vom Himmel.“ Wenn er das sagt, weint Walter L. Er sagt, er wisse nicht, um wen er weint, um sich und seine ungewisse Zukunft oder den anderen Menschen; um das Leben, das er nicht mehr hat, oder das Leben, das er dem anderen genommen hat.
Der Mensch, den er tötet, ist eine Frau, die er kennenlernt, nachdem seine alte Beziehung zerbrochen war. Er hatte damals viel Zeit, eine richtige Arbeit hatte er nicht mehr, er lebt von seinen Reserven. Er fängt ein neues Hobby an, dort lernt er die Frau kennen. „Ich wollte keine Beziehung“, sagt Walter L. Doch das Hobby habe sie zusammengeschweißt. Immer wieder habe es Konflikte gegeben, die Charaktere seien verschieden gewesen, trotzdem geht es viele Jahre lang gut. Bis es dann zu Ende geht.
Da nimmt er die Waffe und schießt
Eigentlich habe er an jenem verhängnisvollen Abend nur reden wollen. Darüber, dass er nicht ein zweites Mal alles verlieren wollte. Vor allem nicht das Hobby, das seinem Leben einen neuen Sinn verliehen hatte, das aber eng mit der Frau verknüpft gewesen war. Doch für die Frau war die Sache längst entschieden. Da nimmt er die Waffe und schießt. Als er die Wohnung in Panik verlässt, weiß er nicht, ob sie noch lebt. „Ich wusste nur, dass es gescheitert ist.“
Die Tat räumt er ein. Er habe selbst die Polizei gerufen, sein erstes Geständnis umfasse 23 Seiten. Während der Gerichtsverhandlung will er sich entschuldigen. „Vielleicht saß ja jemand von meiner Familie da oder der Familie der Frau.“ Doch er habe kaum ein Wort herausbekommen.
Beim Malen vergisst er die Zeit
Im Gefängnis fängt Walter L. an zu malen. Figuren, kleiner als ein Streichholz, auf einem DIN-A3-Blatt. Reihe für Reihe. Andere Bilder spiegeln seine Gedanken und Erlebnisse in der Gefängniswelt wider. Er sagt, so vergesse er die Zeit. Wenn das Bild fertig ist, ist eine Woche um. So wird aus 15.0 irgendwann 6.5. Er sagt, er fühle die Schuld, aber er wisse nicht, was er damit machen solle. Er könne draußen nichts in die Wege leiten. Denn dort sei niemand mehr, bei dem er sich entschuldigen könne. Die Frau ist tot, und von ihrer Familie sei nur noch eine Cousine bekannt, er wisse aber nicht, wo sie wohne.
Seine eigene Familie habe nach der Tat den Kontakt zu ihm abgebrochen. Wenn Weihnachten ist oder er Geburtstag hat, hofft Walter L. auf eine Karte oder einen Brief. Dann hätte er ein Signal gehabt, gespürt, ob Versöhnung Sinn macht. Aber die Karte kommt nicht. Er könnte selbst schreiben, aber er sagt, er habe Angst, dass er keine Antwort oder Ablehnung bekommt. Außerdem wolle er Vergangenes nicht wieder aufwirbeln. „Vielleicht haben sie ihr Leben geordnet und Ruhe gefunden, vielleicht ist Gras über die Sache gewachsen.“ Er wolle nicht noch einmal jemand sein, der alles zerstöre.
Ein Gefühl des Ausgeliefertseins
So bleibt die Schuld stehen. „Wie ein einsamer Baum in der Wüste, dessen Schatten niemand aufsucht“, sagt Walter L. Er sieht die Schuld dort stehen, sie geht nicht weg, aber er sagt: „Wem würde es etwas nützen, wenn ich mich vor Verzweiflung im Staub wälze und mich selbst martere?“ Er sagt, es würde ihn zerreißen. Die Energie, die er noch habe, brauche er für das Leben im Gefängnis. Das Gefühl des Ausgeliefertseins sei oft überwältigend, die Angst, den Verstand zu verlieren, groß. Das System könne nichts dafür, dass er hier gelandet sei. Doch es gelte, die Würde zu verteidigen. „Ich muss nach vorne schauen, ich weiß nicht, wie viele Jährchen mir in Freiheit noch bleiben.“
Wo die Frau begraben liegt, weiß er nicht. Er würde es gerne herausfinden. Was er sagen würde, wenn er am Grab steht? „Ich würde sagen, dass ich es nicht wollte.“ Dass ihm jemand vergibt, glaubt er nicht. „In der öffentlichen Meinung wiegt Mord so schwer, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Je schwerer die Straftat, desto geringer sei die Bereitschaft zu vergeben. „Wenn überhaupt, habe ich früher ja auch so gedacht.“
Wunsch nach Milde beim Strafmaß
Das Einzige, was er sich gewünscht hätte, wäre Milde beim Strafmaß gewesen. Er vergleicht seinen Fall mit Dr. Fähner, der nach 45 Ehejahren seine Frau mit der Axt erschlägt. Dr. Fähner ist eine von mehreren fiktiven Figuren, die der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach für sein Buch „Verbrechen“ in Anlehnung an tatsächliche Fälle geschaffen hat. Dr. Fähner bekommt drei Jahre Haft, die er im offenen Vollzug ableisten kann. Die Anwältin von Walter L. hatte auf acht Jahre plädiert, die Staatsanwaltschaft forderte lebenslänglich. 15.0.
An Gott glaubt Walter L. nicht. Zumindest an keinen Gott, der das Elend auf der Welt zulasse. „Inklusive meiner Tat.“ Es gebe aber Menschen, die „Göttliches“ leisteten. So habe er im Gefängnis einen Mitarbeiter kennengelernt, der ihn aufgefangen habe, der bis heute zu ihm halte. Ob sich der Mensch selbst verzeihen kann? „Ich denke nicht“, sagt Walter L.
(Stefanie Ball)