Gerechtigkeit
20.03.2025


Ohnmacht ist kein angenehmes Gefühl

Pietro Parolin über Ukraine & Nahost

Wir sprachen mit der Nummer zwei im Vatikan über nicht enden wollende Kriege, Äußerungen des Papstes und die Ohnmacht der Kirche.
 

Pietro Parolin ist der Top-Diplomat des Heiligen Stuhls. Das Bild zeigt ihn im September 2024 bei seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Pietro Parolin ist der Top-Diplomat des Heiligen Stuhls. Das Bild zeigt ihn im September 2024 bei seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Foto: © imago/ITAR TASS

Papst Franziskus spricht schon länger von einem „dritten Weltkrieg in Stücken“. Ist das nicht etwas übertrieben?

Ich halte es keineswegs für übertrieben, von einem „dritten Weltkrieg in Stücken“ zu sprechen. Denn es ist offensichtlich, dass viele Länder auf unterschiedliche Art und Weise in die verschiedenen Konflikte in der Welt verwickelt sind, auch wenn sie militärisch nicht direkt daran beteiligt sind. Des Weiteren ist der Begriff des Krieges selbst gerade dabei, Züge anzunehmen, die über den militärischen Aspekt hinausgehen.

Seit drei Jahren ist Krieg in Europa wieder bittere Realität. Hätten Sie das je gedacht?

Niemand hätte sich vorstellen können, dass es nach den tragischen Erfahrungen der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts wieder zu einem Krieg in Europa kommen könnte. Leider neigt der Mensch dazu, zu vergessen, aber das Vergessen führt dazu, dass sich die Vergangenheit und ihre Fehler wiederholen.

   

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In seiner Biografie schreibt der Papst zum Kriegführen: „Wer glaubt, das Böse mit dem Bösen bekämpfen zu können, schafft unweigerlich das noch Schlimmere.“ Ist es falsch, dass die Ukraine sich mit Waffen gegen den russischen Angriff verteidigt?

Meiner Meinung nach ist hier zu unterscheiden. Es ist in der Tat wahr, wie der Papst sagt, dass es illusorisch ist, das Böse mit dem Bösen zu bekämpfen, und dies nur größere Übel hervorbringt. Hier klingt die Mahnung des heiligen Paulus in seinem Brief an die Römer an: „Besiege das Böse durch das Gute“ (12,21). Die katholische Lehre hat jedoch immer die Möglichkeit eingeräumt, sich legitim gegen einen Angreifer zu verteidigen, auch mit Waffen. Ich verweise auf Nr. 2309 des Katechismus der Katholischen Kirche. Das Konzept des „gerechten Krieges“ ist jedoch aufgrund der neuen Umstände – angefangen bei den Massenvernichtungswaffen – Gegenstand neuer Überlegung. Es bleibt aber dabei, dass die Bedeutung von „Verteidigung“ nicht „Aggression“ ist, sondern „Schutz“, „Abwehr von Angriffen“. Es ist auch zu sagen, dass es eine Sache ist, sich gegen das Böse zu verteidigen, aber eine andere, sich von seiner Logik vereinnahmen zu lassen.

Sie haben immer wieder mit der russischen und ukrainischen Seite Kontakt. Im Oktober war Kardinal Zuppi im Auftrag des Papstes sogar in Moskau. Woran liegt es, dass die Vermittlungsbemühungen der Kirche scheitern?

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Mission von Kardinal Zuppi in erster Linie einen humanitären Charakter hatte – wie dies zu einem guten Teil auch für das Engagement des Staatssekretariats gilt – und zu Ergebnissen geführt hat, die von beiden Seiten anerkannt werden. Wenn die Bemühungen der Kirche andererseits nicht immer erfolgreich sind, so liegt das auch daran, dass sie über keine materiellen Druck- oder Zwangsmittel verfügt (zum Beispiel im Hinblick auf Wirtschaft und Handel), sondern sich dem „Wort“ anvertraut: Sie lädt zum Dialog ein, erhebt ihre Stimme gegen Ungerechtigkeiten, appelliert an das Gewissen, bietet die „Guten Dienste“ an. Das „Wort“ ist stark und zugleich schwach, weil es dem guten Willen der Menschen anheimgestellt ist.

Wie gehen Sie mit dieser Ohnmacht um?

Das ist kein angenehmes Gefühl. Die Unmöglichkeit, dem Krieg und dem Leid, das er verursacht, ein Ende zu setzen, macht zutiefst traurig. Es bleibt jedoch die Entschlossenheit, nicht zu resignieren, denn das Gute muss stets getan werden, auch wenn es nicht sofort zum gewünschten Ergebnis führt. Um die Diplomatie des Heiligen Stuhls zu beschreiben, wurde der Ausdruck „Diplomatie der Hoffnung“ verwendet. Das bedeutet unter anderem, weiter auszusäen, und die Frucht wird nicht ausbleiben, wie uns das Gleichnis vom Sämann lehrt.
 

[inne]halten - das Magazin 9/2025

Papst Franziskus ist tot.


Ein Pontifikat des Zuhörens, der Barmherzigkeit und der Nähe ist zu Ende gegangen.

In unserer aktuellen Ausgabe von [inne]halten blicken wir zurück auf das Leben und Wirken von Papst Franziskus, auf seine Zeichen der Demut, seine Reformimpulse und seine Botschaft an die Welt.
Wir ordnen ein, was nun geschieht – vom Abschied bis zur Wahl seines Nachfolgers.

Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.


Viele Beobachter sagen, dass faire Friedensverhandlungen erst möglich werden, wenn die Kosten des Krieges für den Aggressor Putin zu hoch werden. Wie sehen Sie das?


Ich denke, dass faire Friedensverhandlungen möglich sein werden, wenn alle Beteiligten von Respekt für den anderen, von gegenseitigem Vertrauen und vom Willen zum Dialog motiviert sind statt von der Logik der Macht und der Vorherrschaft.

Was würde es bedeuten, wenn die Ukraine aufgibt und sich Russland unterwirft?

Wir wünschen uns, dass dies nicht geschieht, sondern dass die beiden Länder im Hinblick auf einen gerechten und dauerhaften Frieden zu einer Verhandlungslösung zurückfinden und somit als Mitglieder einer internationalen Gemeinschaft zusammenleben können, in der die Stärke des Rechts Vorrang vor dem Recht auf Stärke hat.

Dem Papst wird vorgeworfen, sich nicht eindeutig auf die Seite der angegriffenen Ukraine gestellt zu haben. Ist die Kritik berechtigt?

Ich denke, dass jeder aufrichtige Beobachter keine Schwierigkeiten hat, zu erkennen, dass die Position des Papstes zur Unterstützung der Ukraine nicht bezweifelt werden kann, auch wenn sie bestimmten Erwartungen nicht entspricht. Daher halte ich Kritik dieser Art nicht für gerechtfertigt. Seine größte Sorge bleibt die Suche nach einem Ausweg, welcher der Bevölkerung der – wie er sie stets nennt – „gemarterten Ukraine“ weiteres Leid erspart.

Ein anderer Konflikt, der uns in Europa sehr beschäftigt, ist der in Israel und Palästina. Auch wenn dort die Waffen schweigen sollten, ist eine langfristige Lösung nicht in Sicht. Haben Sie Hoffnung auf ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern?

Der derzeitige Waffenstillstand zwischen Israel und den nichtstaatlichen bewaffneten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen scheint einen kleinen Spalt zu öffnen, der nicht verschlossen werden darf. Ich hoffe, dass die Freilassung der israelischen Geiseln und die Lieferung von humanitären Hilfsgütern nach Gaza sowie die Freilassung verschiedener palästinensischer Gefangener dazu beitragen können, einen anderen Weg als den bisher verfolgten einzuschlagen.

Wie könnte dieses friedliche Miteinander konkret aussehen? Und was müsste auf dem Weg zu diesem Ziel passieren?

Heute brauchen sowohl Israelis als auch Palästinenser ein Zeichen der Hoffnung und keine Vorschläge, die das Recht auf Selbstbestimmung und auf ein Leben in diesen Gebieten nicht respektieren. Ich bleibe fest davon überzeugt, dass keine andere als die Zwei-Staaten-Lösung möglich sein wird, ein israelischer Staat und ein palästinensischer Staat mit einem international garantierten Sonderstatus für Jerusalem.

Papst Franziskus ist mehrfach vorgeworfen worden, er habe den Terror der Hamas nicht deutlich genug verurteilt und Israel zu stark kritisiert. Hätte der Papst sich deutlicher auf die Seite Israels stellen müssen?


Papst Franziskus hat die grauenhaften Ereignisse vom 7. Oktober 2023 klar und unmissverständlich verurteilt. Vielleicht wollte jemand, dass er es dabei belassen hätte, dass nichts über diese Verurteilung hinaus gesagt würde. Das ist unmöglich, sowohl weil das Gemetzel und die totale Zerstörung, die in Gaza erfolgt sind, vor Schmerz und Verzweiflung aufschreien lassen, als auch weil die entstandene Situation das humanitäre Völkerrecht in eine ernste Krise gestürzt und viele schwerwiegende Fragen für beide Seiten aufgeworfen hat. Wie das Zweite Vatikanische Konzil feststellte: „Das Kriegspotential legitimiert auch nicht jeden militärischen oder politischen Gebrauch. Auch wird nicht deshalb, weil ein Krieg unglücklicherweise ausgebrochen ist, damit nun jedes Kampfmittel zwischen den gegnerischen Parteien erlaubt“ (Gaudium et spes, 79).

Des Weiteren sitzt im Weißen Haus nun ein Präsident, der sowohl Rivalen als auch Verbündeten gegenüber voll auf „Friede durch Stärke“ zu setzen scheint. Viele Menschen sind deswegen verunsichert und besorgt. Wie schätzen Sie die Situation ein?


Der Heilige Stuhl verfolgt die internationale Politik der neuen US-Regierung aufmerksam und hofft, dass Präsident Trump zum Frieden in der Welt, zur Förderung der Solidarität und des Wohlergehens der Völker sowie zur Verteidigung der Religionsfreiheit beitragen wird. Dies kann natürlich nicht mit Gewaltmitteln oder allein mit wirtschaftlicher Macht geschehen, sondern durch ein Vorgehen, das sich von der Würde des Menschen, der Achtung seiner Rechte, insbesondere jener der Schwächsten und Verletzlichsten, der Solidarität und der Geschwisterlichkeit leiten lässt.

Wir haben in Europa über Jahrzehnte die Friedensdividende genossen. Nun erleben wir eine Zeit der Aufrüstung. Waren wir naiv? Gilt doch das alte Wort: Willst du den Frieden, bereite den Krieg?

Bei der Suche nach Frieden stellt sich in erster Linie die Frage: Welche Art von Frieden wollen wir? Ein Frieden, der nur auf dem prekären Gleichgewicht der Kräfte beruht, wäre sehr brüchig. Ein dauerhafter Frieden kann nicht auf einem Machtverhältnis aufgebaut werden. Die Schaffung von Frieden betrifft nämlich in erster Linie den Zugang zu und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und erfordert einen auf das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit ausgerichteten Dialog, der gegenseitiges Vertrauen erzeugen kann, anstatt Angst und Bedrohung.

Christliche Pazifisten kritisieren die Aufrüstung. Wie sehen Sie sie – in einer Zeit, in der das internationale Recht zunehmend missachtet wird und Staaten ihre Bevölkerung auch gegen Bedrohungen von außen schützen müssen?


Der Wiederaufrüstungs-Wettlauf, den wir erleben, ist äußerst riskant und gefährlich, nicht nur wegen des enormen Zerstörungspotenzials moderner Waffen, sondern auch, weil dieser neue Wettlauf in einem Kontext stattfindet, in dem die Effektivität des rechtlichen Rahmens nachlässt, der ihrem Einsatz eigentlich Grenzen setzen sollte. Wo die Grundsätze der Menschlichkeit nicht mehr beachtet werden, kann der Einsatz von Waffen zu unkontrollierbaren und katastrophalen Situationen führen. Die Komplexität der heutigen Umstände erlaubt es nicht, den Einsatz von Waffen in der gleichen Weise zu betrachten wie zu den Zeiten, als Waffen noch konventioneller waren und bei ihrem Einsatz ein insgesamt einfacherer Bezugsrahmen hinsichtlich ethischer und moralischer Unterscheidungen genügte. Und dies ist auch ein Punkt, den es zu berücksichtigen gilt, wenn man, wie es legitim ist, die eigene Bevölkerung gegen äußere Aggressionen verteidigen will.

Wie können wir als Christen die neue, bedrohliche Realität ernstnehmen – und uns gleichzeitig nicht mit einem solchen gewaltbewehrten Frieden zufriedengeben?


Das Zweite Vatikanische Konzil hat damals den Frieden als ein „Werk der Gerechtigkeit“ definiert. Wir Christen müssen in diesem Sinne wirken, um effektiv zu seinem Aufbau beizutragen. Es muss eine „Kultur des Friedens“ gefördert werden, die alle seine Dimensionen mit ihren verschiedenen Facetten berücksichtigt, wie die Sicherheit in den Bereichen der Ernährung, Umwelt, Gesundheit, Wirtschaft usw. Überall dort sind die Christen aufgerufen, einen grundlegenden Beitrag zu leisten.

Interview von Ulrich Waschk

Hinweis zum Interview

Dieses Interview wurde schriftlich geführt. Nachfragen, zu denen die ein oder andere Aussage gereizt hätte, konnten wir so nicht stellen. Der Kardinalstaatssekretär hat die Antworten auf Italienisch beantwortet und dann von seinen Mitarbeitern übersetzen lassen. Von der ersten Anfrage bis zum Eingang der übersetzten Antworten dauerte es gut zwei Monate