„Das Grundgesetz ist tiefreligiös geprägt“
Über das Verhältnis von Politik und Religion gibt es immer wieder Missverständnisse. Glaubensüberzeugungen können nicht den Rang unmittelbar geltenden Rechts beanspruchen, aber ebenso wenig ersetzt eine staatliche Verfassung vorherrschende religiöse Überzeugungen. Wie das deutsche Grundgesetz Politisches und Religiöses erfolgreich miteinander verschränkt, erklärt Bundestagspräsident a. D. Professor Norbert Lammert.

Politik und Religion sind zwei unterschiedlich bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Sie können einander nicht gleichgültig sein, aber sie sind gewiss nicht identisch. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Gestaltungsansprüchen sind nicht weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten.
Religionen handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen. Das eine ist so zentral wie das andere, und beides ist offenkundig grundverschieden. Zu den Ergebnissen – gewiss auch zu den Errungenschaften – unserer aufgeklärten Zivilisation gehört die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage. Diese Einsicht macht Politik nötig und Demokratie möglich. Auf der Basis absoluter Wahrheitsansprüche ist Demokratie als Legitimation von Normen durch Verfahrensregeln gar nicht möglich. Demokratie setzt die Trennung von Religion und Politik voraus, die es allerdings ohne religiös vermittelte Überzeugungen von der Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen gar nicht gäbe, was wiederum die Komplexität von Zusammenhängen und Unterscheidungen verdeutlicht.
Das Grundgesetz ist Ausdruck von Überzeugungen
Der legitime Gestaltungsanspruch der Politik wird in der Regel durch Verfassungen definiert, die ihrerseits Ausdruck der Überzeugungen, Orientierungen und Prinzipien sind, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Es gehört zu den vielen, leider weitverbreiteten Missverständnissen unserer Zeit, dass das, was früher einmal die gefestigte gemeinsame kulturelle Überzeugung einer Gesellschaft war, heute von Verfassungen abgelöst sei. Man brauche das eine nicht mehr, weil es jetzt das andere gäbe, und das, was in einer Gesellschaft Geltung habe, sei, werde und müsse abschließend in einer Verfassung niedergeschrieben sein. Das ist sicher nicht falsch, unterschlägt aber, dass Verfassungen nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck von Überzeugungen sind, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Jeder gründliche Blick auf moderne wie auf traditionelle Gesellschaften kommt zu dem Befund, dass der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft durch Kultur gestiftet wird. Oder umgekehrt: Wenn dieses Mindestmaß an kulturellen Gemeinsamkeiten verloren geht, erodiert der Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Für die allgemeine Behauptung, dass der innere Zusammenhalt jeder Gesellschaft nicht durch Politik, schon gar nicht durch Wirtschaft, sondern durch Kultur gestiftet wird – Kultur verstanden als die Summe der gemeinsamen Erfahrungen, Orientierungen und Überzeugungen –, und dass Verfassungen nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck von kulturellen Überzeugungen einer Gesellschaft sind, dafür ist das Grundgesetz ein besonders prominentes, prägnantes, schwer überbietbares Beispiel.
Das Grundgesetz will auch selbst überzeugen
Das Grundgesetz ist von der Präambel über den Katalog der Grundrechte ein hochideologischer, tiefreligiös geprägter Text mit einer Reihe normativer Ansprüche für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft. Bereits das in der Präambel reklamierte „Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ muss nicht in einer Verfassung stehen – und markiert gerade dadurch ihr Selbstverständnis.
Und dass der erste und nach Übereinstimmung aller Verfassungsexegeten auchzentrale Satz unserer Verfassung – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – nicht einen empirischgesicherten Sachverhalt wiedergibt, sondern, wenn überhaupt, dann aus der entgegengesetzten Erfahrung eine Norm herleitet, begründet eine der erstaunlichsten, eindrucksvollsten und spektakulärsten Verfassungsversionen, die wir überhaupt kennen. Würden Verfassungen nicht überzeugen wollen, sondern nur Erfahrungen wiedergeben, müsste der Satz eigentlich lauten: „Die Würde des Menschen ist antastbar“ – der Nachweis ist nirgendwo gründlicher geführt worden als in unserer Geschichte. Weil wir jedoch wissen, dass es genau so war, erklären wir in unserer Verfassung, dass es umgekehrt sein muss.
Mein Eindruck ist, dass wir es gegenwärtig mit zwei großen, ähnlich weit verbreiteten Missverständnissen zum Verhältnis von Politik und Religion zu tun haben. Das eine ist die Anmaßung, religiöse Glaubensüberzeugungen für unmittelbar geltendes Recht zu nehmen und im wörtlichen wie im übertragenen Sinne dann auch zu exekutieren. Das andere ist die Arroganz, freundlicher formuliert die Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugung für überholt, belanglos oder irrelevant zu erklären. Der zweite Irrtum ist kaum weniger gefährlich als der erste. Er ist in unseren Breitengraden weiter verbreitet als der erste und nicht wenige, auch namhafte Intellektuelle haben sich in der guten Absicht der Zurückweisung des ersten Irrtums an der Verbreitung des zweiten Irrtums tatkräftig beteiligt. Religion ist aber nicht belanglos, ganz sicher nicht irrelevant. Aus der richtigen Zurückweisung fundamentalistischer Ansprüche darf nicht die Irrelevanz religiöser Überzeugungen geschlussfolgert werden, weil auch und gerade der aufgeklärte liberale Staat auf religiöse Bezüge nicht verzichten kann und darf.
(Norbert Lammert)