Melanie Wolfers
Weniger glänzen, mehr leuchten
Die Angst, nicht zu glänzen, kann uns lähmen. Doch was passiert, wenn wir uns dem Druck nicht mehr beugen? Eine inspirierende Geschichte über Hingabe, Leidenschaft und Krisen – und das Licht, das darin aufscheint.

Seit geraumer Zeit starre ich auf das leere Blatt Papier, kaue auf meinem Stift herum und verschiedene Einleitungsentwürfe sind bereits zerknüllt in meinem Papierkorb gelandet (ja, manchmal schreibe ich gerne per Hand einen Artikel!). Irgendwann geht mir auf: Der Kampf, den ich gerade mit mir ausfechte, führt mitten hinein ins Thema: „Weniger glänzen, mehr leuchten.“ Denn die bekannte Schreibhemmung verdankt sich einer verbreiteten Furcht: Dass man keine Glanzleistung hinlegt und dafür kritisiert oder belächelt wird.
Der Drang, glänzen zu wollen, ist normal –
und ambivalent
Aus physikalischer Sicht ist Glanz ein Oberflächenphänomen: Licht fällt von außen auf eine Oberfläche, welche das Licht spiegelnd reflektiert. Sie beginnt zu glänzen. In ähnlicher Weise entspringt das Bedürfnis, glänzend dastehen zu wollen, einer Außenorientierung: Es kommt vor allem auf den glänzenden Eindruck ein, den man bei anderen – oder auch ‚nur‘ im eigenen inneren Spiegelkabinett – hinterlässt. Glanzleistungen sollen einem Kritik und Ablehnung vom Hals halten. Und sie sollen Anerkennung und Bestätigung auslösen.
Die eigene Außenwirkung kontrollieren zu wollen, ist völlig normal! Es tut gut, sich im Wohlwollen und vielleicht auch in der Bewunderung anderer zu sonnen. Doch der Drang, glänzen zu wollen, wirft einen Schatten auf unser Leben. Er beeinträchtigt beispielsweise unsere Kreativität und schwächt unseren Mut, Neues zu wagen.
Wie die Angst vor Kritik unsere Kreativität erstickt
Angenommen, Sie arbeiten in einem Unternehmen und haben eine neue Produktidee entwickelt, die Sie im Arbeitsteam vorstellen wollen. Doch das ist eine heikle Angelegenheit. Und sie wird umso brisanter, je mehr Sie den eigenen Selbstwert daran knüpfen, welche Resonanz die eingebrachte Idee auslöst: Nimmt das Team die Idee gut auf, erlebt man sich selbst als wertvoll und toll; wenn nicht, empfindet man sich als ungenügend. Durch eine solche außenorientierte Lebenseinstellung besteht die Gefahr, in einer der drei folgenden Sackgassen zu landen:
Erstens : Ich halte hinterm Berg mit dem, was ich geschaffen oder entwickelt habe. Oder falls ich mich doch traue, werde ich die ungewöhnlichsten Aspekte meines Werkes unterschlagen und meine wildesten Einfälle verschweigen. Denn es steht einfach zu viel auf dem Spiel! Die Sorge vor einem negativen Echo und der Versuch, das fragile Selbstwertgefühl zu schützen, werden zum Kreativitätskiller.
Zweitens: Findet meine Idee keine positive Resonanz, dann fühle ich mich niedergeschlagen. Wertlos, zu klein geraten oder irgendwie ‚daneben‘. Und schwöre mir, beim nächsten Mal unauffällig zu bleiben.
Drittens: Meine kreative Leistung wird geschätzt und mit einem staunenden „Was für eine glänzende Idee!“ aufgegriffen. Ich erlebe mich als anerkannt und wertvoll. Was für ein Glück, könnte man meinen. Doch auch jetzt tut sich ungewollt eine Sackgasse auf. Denn sobald wir unser Selbstwerterleben an Glanzleistungen und Anerkennung koppeln, brauchen wir immer mehr davon. Ja, wir werden zu Junkies: Wir hängen am Tropf unserer Begabung, die unentwegt in Beifall und Erfolg verwandelt werden muss. Träufelt dieses Suchtmittel nicht in unser Inneres, stürzen wir ab und fühlen uns wertlos. Die Sucht nach Anerkennung nimmt uns gefangen. Und wir müssen zwanghaft versuchen, unsere eigene Leistung zu steigern bis zum Geht-nicht-mehr.
Der Drang, vor anderen glänzend dastehen zu wollen, raubt jedoch nicht nur den Mut, unsere Kreativität ins Spiel zu bringen und Neues zu wagen. Vielmehr gilt für alle Lebensbereiche:
Wer zu glänzen versucht, verdunkelt sein eigenes Licht. (Laotse)
Wie das eigene Licht leuchten lassen?
Wenn uns eine Tätigkeit sinnvoll und bedeutsam erscheint, dann
entsteht Energie für Echtheit und Glaubwürdigkeit. Und in dem Maß, in
dem wir für eine Sache brennen oder einem Menschen echtes Interesse
entgegenbringen, in dem Maß wird unser eigenes Licht leuchten können.
Für mich unvergesslich: Ein Friedenskonzert von jungen Musikerinnen aus
Israel und Palästina mit dem Dirigenten Daniel Barenboim. Hingegeben an
die Musik waren die Instrumentalisten nicht Darsteller ihres Könnens,
sondern Klangkörper für die Musik. Es kam mir so vor, als ob das
Orchester abhebt und zu fliegen beginnt. Und uns alle mitnimmt.
Wenn
wir uns wie Vollblutmusikerinnen von etwas Größerem ergreifen lassen,
dann werden wir unsere Talente und Gaben mutig einbringen. Wenn anderes wichtiger als die Angst um das eigene Ich, dann gewinnen wir eine neue schöpferische Freiheit: Wir
richten unser Bemühen auf das, was wir tun – anstatt darauf, wie wir
bei den anderen ankommen oder wie perfekt wir sind. Wir werden fähig,
das zu geben, was nur wir zu geben vermögen. All das verleiht eine tiefe
innere Zufriedenheit! Und diese Zufriedenheit trägt auch dann noch,
wenn das Ergebnis nicht so ausfallen sollte wie erhofft.
Demokratie unter Druck Es sind unruhige Zeiten: Autokraten diktieren das Weltgeschehen, in Deutschland sind Parteien des politischen Randes auf dem Vormarsch. Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann erkärt, welche Kulturkrise unsere Gesellschaft gerade erlebt und welchen Platz der christliche Glaube in dieser Gemengelage hat. Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.[inne]halten - das Magazin 7/2025
Innehalten Cover 7-2025
Wie Krisen den Weg zum
inneren Strahlen freilegen können
Das Licht, das im Innern einer jeden Person brennt, kann in Krisen-Situationen durchbrechen. Kann aufleuchten, wenn das elende Gefühl von Versagen und Scheitern nach einem greift. Die Cellistin und spätere Zen-Meisterin Silvia Ostertag erzählt von einer solchen Radikal-Kur.
Unter der Leitung des berühmten Dirigenten Sándor Végh sollte Silvia Ostertag mit ihrem Streichquartett die Meisterkurse für Musik in Lissabon eröffnen. Dies kam für sie ziemlich überraschend. Noch weniger hatte sie geahnt, dass die Eröffnung von Fernsehen und Hörfunk übertragen wurde. Das einleitende Cello-Solo ging ihr entsprechend holprig von der Hand. Mit einem lauten „Halt!“ unterbrach Sándor Végh das Streichquartett. „Das Cello ist zu schlecht, fangt nochmals an!“ Beim zweiten Versuch brach Sándor Végh das Spiel noch früher ab als zuvor und schrie ihr zu, sie spiele zu schlecht! So könne er überhaupt nicht unterrichten!
Silvia Ostertag hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Doch zu ihrer eigenen Überraschung schrie sie zurück, dass sie Angst habe. Mürrisch befahl ihr der Dirigent, allein so lange immer den gleichen Ton zu spielen, bis sie keine Angst mehr spüre. Ostertag begann, die leere Seite zu streichen. Der Bogen zitterte. Tränen und Schweiß liefen ihr übers Gesicht. Die Fernseh-Kamera zoomte heran, um das sensationelle Zittern in Großaufnahme zu übertragen. Ostertag strich den Bogen hin und her. Und hin und her, bis sie irgendwann dachte: Mehr als jetzt kannst du dich in deinem ganzen Leben nicht blamieren! Nun wissen alle, dass du eine Niete bist.
Zu ihrer Überraschung wirkte diese Einsicht wie ein Befreiungsschlag. Sie achtete nicht mehr auf ihr Spielen. Sie konnte und wollte nichts mehr verbessern und gewinnen. Eine große Ruhe durchflutete ihren Körper. Als Végh die innere Wende in ihrem Spiel vernahm, gab er dem Quartett blitzschnell ein Zeichen, jetzt wieder zu beginnen. Silvia Ostertag berichtet, dass sie nun nicht nur ohne einen Anflug von Angst, sondern in einer für sie völlig anderen Qualität spielte:
„Die ‚hoffentlich-kann-ich-das‘-Ebene mit ihren erbärmlichen Angst- und Siegesgefühlen war nicht mehr da, störte nicht mehr die Hingabe an die Arbeit, Töne in ihrer Lebendigkeit wiederzugeben.“
Leonard Cohen hatte recht:
Risse lassen Licht herein
Was für eine alptraumhafte Situation! Und doch gibt es diese Erfahrung: Krisen, in denen etwas in unserem Leben zu Bruch geht, können zu der Erfahrung führen: „Alles hat Risse. Auf diese Weise tritt das Licht ein.“ Oder wie Leonhard Cohen in seinem Song „Anthem“ im Original singt: „forget the perfect offering / There is a crack in everything / That’s how the light gets in.“