Kolumne
Bei mir selbst daheim: Wie ich gelernt habe, mit Einsamkeit umzugehen
Eine Kindheitserfahrung wurde für Andreas Knapp zum Ausgangspunkt, um Zeiten der Alleinseins gut zu gestalten.
Eine Erinnerung aus meiner Kindheit steht mir bis heute lebendig vor Augen: Ich sehe mich vor der Eingangstür meines Elternhauses stehen. Meine Eltern waren zum Einkaufen gefahren, und ich blieb allein daheim. Anfangs fand ich das aufregend, fast wie ein kleines Abenteuer. Doch je länger ich warten musste, umso größer wurde meine Angst: Was ist, wenn meinen Eltern etwas zugestoßen ist? Ich hielt es im Haus nicht mehr aus, sondern stellte mich auf die Eingangstreppe und wartete auf unser Auto. Mit jeder Minute wuchs meine Sorge: Wenn sie nicht mehr heimkommen, dann bin völlig verlassen; bin mutterseelenallein auf der Welt. Doch dann – endlich! – hörte ich das vertraute Geräusch unseres Autos, das in die Hofeinfahrt einbog. Meine Eltern waren zurück.
Diese Kindheitserfahrung hat mich gelehrt, dass Einsamkeit Teil des Lebens ist. Sie gehört zum Erwachsen-Werden dazu. Seit wir bei der Geburt von der Nabelschnur der Mutter abgetrennt wurden, sind wir ein „Individuum“ und müssen lernen, mit unserem Alleinsein zurecht zu kommen. Natürlich bleiben wir in einem guten Sinn immer auch abhängig von anderen: Wir sind angelegt und angewiesen auf Beziehungen – auf Freundschaft, Nähe, Kommunikation. Dies macht unser Leben reich. Zugleich aber gilt es auch zu lernen, es mit uns selbst auszuhalten. Mehr noch: bei uns selbst daheim zu sein. Und uns mit uns selbst anzufreunden. Doch das ist alles andere als leicht.
Die Zeit mir mir selbst gestalten
Freundschaft bedarf der Kultur, der Pflege. Auch das Alleinsein-Können will geübt werden. Um bei sich selbst wohnen zu können, ist es wichtig darauf zu achten, wie wir die Zeit gestalten, in der wir mit uns selbst allein sind. Wenn ich heute an meine Kindheitserinnerung zurückdenke, spüre ich, dass das Gefühl von Einsamkeit vor allem eines war: eine offene, unstrukturierte Zeit, in der ich keinen Halt fand. Ich wusste nicht, wie lange ich noch warten muss. Jede Minute fühlte sich an wie eine Ewigkeit – und zwar eine qualvolle. Später lernte ich, dass das Alleinsein leichter auszuhalten ist, wenn ich einer solchen Zeit eine Struktur gebe. Die Zeit also nicht totschlage, sondern sie gestalte. Mir hilft es, wenn ich mir eine Art Stundenplan aufstelle: aufstehen, Essen, Zeit für Stille und Gebet, Arbeit, Bewegung, Muße.
Gebe ich meiner Zeit eine Form, dann verfalle ich nicht in ein zielloses Grübeln, sondern es entsteht ein Gefühl von innerer Ruhe.
Ein Rückzugsort für die Seele
Auch der Raum, in dem ich mich aufhalte, spielt eine Rolle. Fühle ich mich wohl in meinem Zimmer? Oder drängt mich die Unordnung dazu, vor mir selbst davonzulaufen? Mir ist es wichtig, meinen Raum so zu gestalten, dass er mich zur Ruhe kommen lässt. Habe ich einen guten Rückzugsort? Habe ich meine Wohnung, mein Zimmer so eingerichtet, dass ich es dort gut – mit mir selbst – aushalten kann? Durch ein paar Blumen oder eine Kerze auf dem Tisch schenke ich mir selbst Aufmerksamkeit. Und diese kleinen Dinge helfen mir, bei mir selbst zu wohnen. Thomas von Aquin hat einmal gesagt: „Friede ist die Ruhe, die sich der Ordnung verdankt.“ Das erlebe ich immer wieder. Wenn mein Raum und meine Zeit eine Ordnung haben, finde ich leichter zu mir selbst.
Das innere Chaos sortieren
Doch auch wenn der äußere Rahmen stimmt, stellt sich noch nicht automatisch ein innerer Frieden ein. Manchmal erlebe ich das Gegenteil: Ich sehne mich nach Alleinsein, um Abstand von den vielen äußeren Ansprüchen zu finden. Doch wenn die Forderungen von außen verstummen, tauchen innere Stimmen auf, die chaotisch wirken: Erinnerungen an Verletzungen, Ansprüche an mich selbst, Ängste, Befürchtungen ... Auch hier braucht es eine Ordnung. Mir hilft, wenn ich das, was mich innerlich bewegt, aufschreibe. In solchen Zeiten wurde mir mein Tagebuch zu einem wichtigen Begleiter. Ich kann das zum Ausdruck bringen, was in mir auftaucht. Schreiben macht „objektiver“, weil ich Abstand zu dem finde, was sich in mir zu Wort meldet. Im Schreiben werden mir Zusammenhänge klarer; ich kann das Chaos sortieren und meine eigene Geschichte besser lesen – und dadurch auch leichter annehmen lernen.
Daheim sein im Geheimnis Gottes
Das Schreiben ins Tagebuch wird für mich oft auch zum Gebet. Denn ich schreibe „im Angesicht Gottes“. All das, was in mir vorgeht, bringe ich vor Gott. Im Gebet kann ich bisweilen spüren, dass ich allein bin – und zugleich daheim, im Geheimnis Gottes. In der deutschen Sprache bedeutet die Vorsilbe „Ge“ oft das Gesamt: das „Gebirge“ ist das Gesamt der Berge. Und das „Geheimnis“ ist das Gesamt dessen, worin wir daheim sind. Das Gebet ist für mich der Ort, an dem ich mein Allein-Sein vor Gott leben kann: Ich darf ich selbst sein, mit meinen hellen und dunklen Seiten. Und zugleich bin ich aufgehoben in einem größeren Geheimnis, in Gottes Gegenwart.