Persönlichkeitsentwicklung
29.07.2024

Im Schritt-Tempo

1.300 Kilometer nicht auf der Überholspur, sondern im Schritt-Tempo unterwegs: Fünf Erfahrungen, die Ines Schaberger beim Pilgern gemacht hat.

Pilgern. Pilgern. Foto: © Ines Schaberger

Auf dem Brenner an der österreichisch-italienischen Grenze, da konnte ich nicht mehr. Meine Schultern schmerzten und an den Füßen hatte ich eine große Blase. Ich verfluchte die Neugierde auf einen Tapetenwechsel und die Sehnsucht nach einer spirituellen Erfahrung in der Natur, die meinen Mann und mich hatten aufbrechen lassen: Nach Abschluss unseres Studiums hatten wir unsere Jobs gekündigt. Wir wollten uns eine zweimonatige Auszeit beim Pilgern nehmen. Zu Fuß sollte es von meinem Heimatort in Niederösterreich auf dem österreichischen Jakobsweg bis Innsbruck und auf weiteren Pilgerwegen in den Süden bis Assisi gehen.

In einem billigen Motel am Brenner, eingepfercht zwischen Zuggleisen und Lastwägen, hätte unsere Pilgererfahrung jedoch fast geendet. Am Ende meiner Kräfte wäre ich am liebsten in den nächsten Zug gestiegen und nach Hause in meine vertraute Umgebung und an meinem Schreibtisch zurückgefahren. Doch mein Mann ermutigte mich, weiterzumachen und begann geduldig, einen Teil meines Gepäcks in seinen Rucksack zu packen.

Schließlich pilgerten wir weiter. Im Folgenden stelle ich fünf Erfahrungen vor, die (nicht nur) wir auf unserem Pilgerweg machten.


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1. Das Leben passt in einen Rucksack

„Eines Tages fällt dir auf, dass du 99 Prozent nicht brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg. Denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck“, singt die Band „Silbermond“. Diese Erfahrung ist wohl eine der grundlegendsten, die Menschen beim Pilgern machen. Plötzlich passt das ganze Leben in einen Rucksack. Je leichter dieser gepackt ist, desto leichtfüßiger bewegt man sich fort.

Frei nach Marina Abramovics Empfehlung, was ein Künstler besitzen sollte, hat mein Mann René Schaberger folgende Packliste zusammengestellt:

Der Pilger benötigt 12 Dinge:

  • 1 Gewand zum Pilgern
  • 1 zweites Gewand, wenn das erste noch nass ist vom Waschen
  • 1 Paar Wanderschuhe
  • 1 Wasserflasche
  • 1 Zahnbürste
  • 1 Seife
  • 1 Buch zum Lesen
  • 1 Tagebuch zum Schreiben
  • 1 Schlafsack
  • 1 Schlafmatte
  • 1 Pilgerausweis und Reisepass
  • 1 wenig Geld für Essen, Unterkunft und um in Kirchen eine Gebetskerze anzuzünden

Wer so unterwegs ist, kann die großartige Entdeckung machen: Es braucht so wenig, um glücklich zu sein!

2. Nur wer langsam geht, entdeckt die Schätze der Natur

Zu Beginn der Reise dachte ich, die besten Strecken wären die Wege ohne Auf und Ab; die, bei denen das Ziel von Anfang an sichtbar ist. Da wusste ich noch nicht, wie langweilig die immer gleichen, immer geraden Wege sein können – und wie viel aufregender es ist, wenn sich der Weg erst Schritt für Schritt erschließt:  

  • Wenn ich mutig ins Ungewisse gehe und dann merke, dass ich richtig bin. 
  • Wenn der geplante Weg mit Gestrüpp überwuchert ist und ich einen neuen suchen muss. 
  • Wenn ich nach einem schwierigen Aufstieg zurückblicke und erstmals bemerke, an welch atemberaubender Landschaft ich vorbeigegangen bin.

Ob Weingärten, Waldwege oder abgeerntete Felder – im Schritt-Tempo erleben Menschen die Natur mit allen Sinnen und darum sehr intensiv. Pilgerinnen und Pilger können so Veränderungen in der Landschaft und in den Jahreszeiten über eine längere Strecke beobachten.  

Solche ganzheitlichen Erfahrungen vertiefen die Verbundenheit mit der Natur. Dies kann Dankbarkeit für die Schöpfung stärken und den Wunsch fördern, sich auch Zuhause für deren Bewahrung einzusetzen.

3. Pilgern ist Burn-Out-Prävention

Wer sich auf eine längere Pilgerreise wagt, lässt damit auch die Alltagsroutine zurück. Die Sehnsucht, aus dem Hamsterrad auszusteigen und „einfach mal weg“ zu sein, verbindet viele Pilgerinnen und Pilger.

In den ersten Tagen des Pilgerwegs verunsicherte es mich, keine E-Mails zu checken und mein Handy ausgeschaltet und nur für Notfälle dabei zu haben. „Wer bin ich schon, wenn ich nicht arbeite?“, fragte ich mich zwangsläufig. Doch schon nach wenigen Tagen gewöhnte ich mich daran, nicht erreichbar zu sein. 

Der Abstand zu meinem ansonsten stressigen Alltag half mir, mein Leben wie aus der Vogelperspektive zu betrachten und meine Prioritäten neu zu sortieren.

Weil Pilgern zur eigenen Mitte hinführt, ist Pilgern eine gute Burn-Out-Prävention, so Pilgerexperte Josef Schönauer, Autor des Buches „Pilgern erdet und himmelt“: „Manche entdecken im Pilgern zu ihrer eigenen Überraschung, wie viel Lebenskraft und Lebensfreude in ihnen schlummert“. Diese Erfahrung in den Alltag mitzunehmen, kann für das oft stressige Berufs- und Familienleben stärken.

4. Wer pilgert, lernt, Hilfe anzunehmen

Beim Pilgern haben mein Mann und ich gespürt, wie sehr wir auf Freundlichkeit, die Hilfe und Gastfreundschaft anderer Menschen angewiesen sind: Auf Menschen, die uns den Weg zeigen, wenn wir uns verlaufen haben. Die uns Wasser geben, wenn die eigenen Flaschen leer am Rucksack baumeln und kein Laden in Sicht und der Brunnen ausgetrocknet ist. Und die gegen eine Spende oder einen kleinen Betrag einen Platz im Kloster oder in einer Unterkunft anbieten. Viele Pilgerherbergen am Cammino di Assisi werden beispielsweise von Freiwilligen betreut. Sie renovierten ehemalige Ställe, Bauernhöfe oder Volksschulen in kleinen Dörfern. Für eine Nacht bekommen Pilgerinnen und Pilger ein Bett, eine Dusche, eine Kochgelegenheit oder ein warmes Abendessen – und manchmal ein Gläschen selbstgemachten Grappa, eine Tasse Kaffee oder Tomaten aus dem Garten.

Jeden Menschen so zu empfangen, als wäre Christus selbst zu Gast, ist eine Weisung aus der alten „Regula Benedicti“. Benedikt von Nursia formulierte sie für seine Mitbrüder und bis heute leben einige Ordensgemeinschaften danach. Er empfiehlt: Gäste sollen mit gebührender Ehre empfangen werden und Arme sowie Fremde sollen besonders sorgfältig aufgenommen werden.

Diese herzliche Gastfreundschaft beim Pilgern spüren zu dürfen, machte mich dankbar und motivierte mich, Gäste selbst so willkommen zu heißen. 
Und nirgendwo schmecken eine selbstgemachte Suppe oder ein Glas Wein so gut wie nach einem anstrengenden Pilgertag. 

5. Pilgern ist beten mit den Füßen

Wer in Kirchen beim langen Sitzen auf den Holzbänken schnell Rückenschmerzen bekommt; wer Stille lieber mag als Gebete mit vielen Worten oder wer nach einer ganzheitlichen Erfahrung sucht, für den könnte Pilgern eine passende Art der Spiritualität sein. Denn: „Pilgern ist beten mit den Füßen“, wie schon ein altes Sprichwort sagt.

Sind Menschen zu Fuß unterwegs ist, dann kommt auch ihre Seele in Bewegung. Vieles kommt innerlich „in Gang“, wenn sie einen Schritt vor den anderen setzen. Wichtig dabei ist das Schritt-Tempo, das Zeit zum Wahrnehmen und Verarbeiten lässt.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir nirgendwo so leicht fällt zu beten, wie mit Wanderschuhen an den Füßen. Während ich pilgere, denke ich oft über einzelne Psalmworte oder Gedichtverse nach, die mir auf dem Weg begegnen. Zuletzt begleitete mich der folgende Ausspruch von Franz von Sales, den ich beim Pilgern in einem Schaukasten vor einer Kirche entdeckt hatte: 

„Wenn dein Herz wandert oder leidet,
bring es behutsam an seinen Platz zurück
und versetze es sanft in die Gegenwart Gottes.“

Ines Schaberger kurz vor dem Ziel: Assisi. Ines Schaberger kurz vor dem Ziel: Assisi. Foto: © Ines Schaberger

Am Ziel

Immer wieder zweifelte ich beim Pilgern, ob mein Mann und ich es wirklich schaffen würden: Zwei Monate lang jeden Tag von Neuem aufstehen, zu Fuß weitergehen und oft noch nicht wissen, wo wir nachts schlafen oder was wir essen würden – das kam mir oftmals unmöglich vor. 

Doch wir gingen weiter. Manchmal viele Kilometer, manchmal nur wenige. Manchmal gar keine. Wir fanden unser eigenes Tempo. Und Schritt für Schritt kamen wir dem Ziel näher.

Immer mehr Pilgerinnen und Pilger kamen hinzu, die einem Sog ähnlich in dieselbe Richtung wie wir unterwegs waren. Die Begegnungen mit ihnen und ihre Motivation sorgten dafür, dass auch wir gestärkt immer weiter gingen.

Und dann waren wir an unserem Ziel, in Assisi, angelangt. Und spürten jedoch: Das eigentliche Ziel waren der Weg selbst und alle Erfahrungen, die wir auf diesem Weg machen durften.

René und Ines Schaberger am Ziel in Assisi. René und Ines Schaberger am Ziel in Assisi. Foto: © Ines Schaberger
Ines Schaberger
Artikel von Ines Schaberger
Journalistin und Theologin
Jahrgang 1993, ist Pilgerseelsorgerin in St. Gallen und Gastgeberin des Podcasts „fadegrad“ mit inspirierenden Lebensgeschichten.