Persönlichkeitsentwicklung
24.08.2024


Kolumne

Anstand: Ein guter Anfang für ein gutes Leben?

Anstand klingt gestrig und verstaubt. Aber seit Angela Krumpen mit 17 Jahren dem anständigen Docteur Rieux in der „Pest“ von Camus begegnet ist, weiß sie: Anstand ist ein Schlüssel für ein gutes Leben.

Foto: © Markus Bollen

Seit einiger Zeit haben wir einen Dauergast, der nur Französisch spricht. Das macht mir nichts, Französisch ist mir fast so vertraut wie meine Muttersprache. Was ich allein meinen anständigen Lehrerinnen und Lehrern verdanke.

Als sogenannte „68er“ kamen sie frisch von der Uni, für sie waren wir die neue, die junge Generation. Frisch und unbelastet von den Wunden und Schrecken der Kriege sollten wir der jungen Generation anderer europäischer Länder begegnen können. Weil es Verständnis aber nicht ohne Verstehen gibt, sollten wir Sprachen lernen, vor allem Französisch.


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Anstand braucht Engagement und Mut

Meine Lehrerinnen und Lehrer muteten sich und uns viel zu: Sie heuerten die Lehrer der belgischen Kaserne am Ort an, die kein Deutsch konnten. Sie bestellten französische Schulbücher, ohne Vokabelteile natürlich. Und sie fuhren in ihren Ferien mit uns nach Frankreich.

Klar war das erste Mal schwer. Ich war elf Jahre, hatte Heimweh und verstand wenig. Aber nie vergessen habe ich den tosenden Applaus, den ich als Klassensprecherin am bunten Abend in der prallvollen Schulaula für meine kleine Begrüßungsrede bekam (und die ich noch heute im Schlaf kann).

Man kann über Anstand lachen

Bei mir hat der Plan funktioniert. Meine Austauschpartnerin von damals ist heute meine älteste Freundin, ihr Sohn mein Patenkind. Ich liebe die französische Sprache und ihre Literatur. Mit 17 las ich in einer schlaflosen Nacht Albert Camus‘ „Pest“ im Original. Nie vorher und auch nie nachher hat mich eine fiktive Gestalt so tief bewegt wie Camus’ Held, der Docteur Rieux.

Camus, der die Pest unter der deutschen Besatzung schrieb und als Allegorie auf die Nazis verstand, lässt seinen Arzt Rieux freiwillig in der Pest-Stadt bleiben und sich so erklären: „Bei alldem handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.“

Anstand macht glücklich

Seither fallen mir überall Menschen auf, die ihren Beruf anständig ausüben. Wobei es in der Tat nicht um Heldentum geht; der Anstand steckt oft in kleinen Gesten. Oder in der berühmten Extrameile: Eine Stewardess, die mich auf einem Langstreckenflug fürsorglich bittet, meinen Platz zu tauschen. So könnten Freunde zusammensitzen und für mich habe sie eine spannende Reisebegleitung gefunden. Oder die Angestellte einer Krankenkassen-Hotline, die sich meine Nummer raussucht und zurückruft, obwohl eigentlich alles gesagt war. Aber sie hatte noch eine Idee, um mir doch noch zu helfen.

Lehrerinnen oder Lehrer meiner Kinder, die in ihrer Freizeit mit den Kleinen in der Klasse übernachten und Lesenächte veranstalten, und die mit den Großen monatelang aufwendige Musicals einstudieren. Vereinstrainerinnen, die ihre E-Jugend-Kinder zu ihrem 18. Geburtstag nach Hause einladen und Gemeinschaft schaffen; eine Förderschullehrerin, die sich am Samstag Seite an Seite mit mir, der Pflegemutter, über Pflegekinder schulen lässt und die Fortbildung privat bezahlt. Ich könnte noch lange so fortfahren, all das ist anständig.

Wo immer mir diese Art von Anstand begegnet, begegnen mir fast immer auch glückliche, zumindest zufriedenere Menschen. Um es frei nach Camus zu sagen: Man kann darüber lachen. Aber vielleicht sollten wir nicht über Anstand lachen. Sondern ihn einfach für ein gutes Leben nutzen.

Für unser gutes Leben.

Angela Krumpen
Artikel von Angela Krumpen
Journalistin, Moderatorin und Autorin
Überrascht (und ein bisschen stolz) war sie, als sie mal als „Aktivistin für ein gutes Leben“ angekündigt wurde. Passt aber, denn das Motto ihrer Arbeit ist: „Ein gutes Leben für alle“. Mehr unter: www.angela-krumpen.de