Wenn Spielen zur unkontrollierbaren Sucht wird
Kai ist seit ein paar Monaten spielfrei – die längste Zeit in seinem Leben. Der Kampf gegen die Glücksspielsucht ist hart, und Rückschläge bleiben nicht aus
Ein großes Unternehmen während der Fußball-EM: Ein Tippspiel wird organisiert. Auch Kai, dort Teamleiter, wird gefragt, ob er mitmacht. Doch er sagt „Nein“. „Aber du bist doch großer Fußballfan“, lautet die Reaktion. Er habe keine Lust, sagt er, und bleibt bei seinem „Nein“. Dass das „Nein“ für ihn mehr bedeutet, als nur bei einem Tippspiel nicht mitzumachen, ahnen die Kollegen nicht. Denn Kai ist spielsüchtig. Seit er 17 Jahre alt ist. Heute ist er 30 und seit Februar dieses Jahres „spielfrei“. Die bisher längste Zeit in seinem Leben.
Laut den aktuellen Zahlen des Glücksspielatlas 2023 sind in Deutschland 1,3 Millionen Menschen glücksspielsüchtig. Zusätzlich haben 3,2 Millionen ein Problem mit Glücksspiel, erfüllen aber noch nicht die Suchtkriterien. In Bayern könnten die Betroffenen der Zahl nach die Allianz Arena füllen, setzt Suchttherapeutin Beatrice Dittelbach die Zahlen ins Verhältnis. Sie arbeitet bei der Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke in München. Die Zahl sei in den vergangenen Jahren angestiegen, wahrscheinlich weil Werbung für Glücksspiele viel präsenter sei und auch immer mehr online stattfinde, so Dittelbach.
Was ist Glücksspiel?
Unter Glücksspiel wird jedes Spiel, jede Wette, jedes Event verstanden, bei dem Geld eingezahlt werden muss, um mitmachen zu dürfen, und bei dem es gleichzeitig ein Risiko gibt, ob durch die Teilnahme etwas gewonnen werden kann oder nicht. Zu den klassischen Glücksspielen gehören beispielsweise „Poker“ oder „Roulette“, aber auch Sportwetten, Glückslose und Lotto sind Glückspiele.
Kai war Schüler, als in seinem Heimatort eine Spielhalle eröffnet wurde. Mit einem Freund hat er sich diese aus Neugier einmal angeschaut. Er fand es dort „cool“ und ging dann öfter hin. Neben Bowling gab es dort auch Spielautomaten, sogenannte Slots. Da drehen sich Walzen, und der Spieler kann pro Drehung einen Betrag setzen. Ziel ist es, möglichst viele gleiche Symbole in einer Reihe zu haben; danach bemisst sich der Gewinn. Die Einsätze erscheinen zunächst niedrig: Kai setzte pro Umdrehung 20 bis 30 Cent. Er verlor seinen Einsatz. Schnell verfiel er in den Gedanken, das verlorene Geld „wieder reinholen zu müssen“. Dieses sogenannte Chasing-Verhalten ist ein typisches Symptom für Spielsüchtige. Die Betroffenen verlieren Geld und versuchen immer wieder, es durchs Weiterspielen zurückzugewinnen, beschreibt Dittelbach. Das funktioniert jedoch nicht, und so wird immer mehr Geld eingesetzt.
Therapie gegen Spielsucht
Mit jedem verlorenen Cent wuchs bei Kai nicht nur sein Drang, das verlorene Geld zurückzugewinnen, sondern auch seine Abhängigkeit von den Glücksspielen. Ging er anfangs mit Freunden in die Spielhalle, so ging er jetzt auch immer öfter allein. Teilweise blieb er, bis die Spielhalle nachts um drei schloss. Als Schüler war sein Geldbudget begrenzt. So ging Kai an sein Sparbuch. Die 800 Euro verspielte er. Um an Geld zu kommen, log er auch seine Eltern an, bat beispielsweise um Geld fürs Kino und verzockte es.
Seine Spielsucht blieb von ihnen nicht unbemerkt. Auf Druck seiner Eltern machte der Schüler damals eine Therapie. Eine von zwei Langzeittherapien. Ohne Erfolg: Kurz nach der stationären Entlassung begann er wieder zu spielen. Anders als beim ersten Mal erzählte er diesmal auch seinen Freunden davon. Doch auch die Therapie war erfolglos. Dabei war er in den Therapien immer ein „Musterschüler“, wie er sagt. „Ich habe viel Sport gemacht, und auch die Therapeuten waren zuversichtlich“.
Glücksspiel statt Spielautomaten
Das Spielen blieb Teil von Kais Leben. Seit 2017 hat er nichts mehr gegen seine Sucht unternommen. Glücklich war er mit der Situation nicht. „Ich muss was dagegen tun.“ war ein Gedanke, der ihn fast täglich begleitet. Aus diesem Antrieb heraus hat sich der heute 30-jährige auch als Spieler sperren lassen. Die sogenannte Spielersperre geht auf den Glücksspielstaatsvertrag zurück und dient der Bekämpfung der Glücksspielsucht. Dem Betroffenen ist es zum Beispiel nicht mehr möglich, in Spielhallen oder Casinos zu gehen. Auch auf legale Online-Glücksspielangebote hat man keinen Zugriff. Doch wer spielen will, der findet Mittel und Wege. Kai fand sie online.
Kompetenz hilft bei Sportwetten nicht
Er spielte Poker und „alle möglichen Kartenspiele, von denen ich keine Ahnung hatte, wie sie funktionierten.“ Auch auf Sportevents setzte er: „Man schaut ein Spiel anders, wenn man darauf gesetzt hat. Man fiebert bei jedem Kontakt mit. Es ist in der Phase auch cool, weil es alles spannender macht, man fiebert viel mehr mit. Es ist ein sehr, sehr großer Nervenkitzel“. Beim Fußball kennt er sich gut aus. Doch es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man dann gewinnt. „Kompetenz hilft nicht, um bei Sportwetten zu gewinnen“, macht Dittelbach deutlich. Sportwetten seien immer ein Risiko: „Da spielt der Zufall eine Rolle, und es stehen so viele Personen auf dem Platz, deren Verhalten nicht einhundertprozentig vorhersehbar ist.“
Beziehung zerbrach an Spielsucht
Kai hat in den vergangenen Jahren nicht ständig gespielt, aber das Glücksspiel war immer präsent: „Mal mehr, mal weniger, aber es ist immer im Kopf“. Es gab Phasen, in denen er sich komplett zurückzog: „Da ging es nur darum, wie ich an ein paar Euro komme, um online weiterzuspielen“. In den zwei Jahren, in denen er eine Freundin hatte, trat die Sucht in den Hintergrund, „weil ich sehr glücklich mit ihr war“. Von seiner Spielsucht wusste sie nichts. Er spielte nur abends, oder wenn sie nicht da war. Doch die Sucht hatte ihn weiterhin im Griff: Um zu spielen, nahm er Geld vom gemeinsamen Konto. Es sei häufig der Fall, dass Spieler irgendwann nicht mehr nur mit dem eigenen Geld spielen, sondern auch mit dem von Angehörigen, so Dittelbach: Meistens mit der Intention, es bald wieder zurückzulegen. Da der Spielsüchtige davon ausgeht, zu gewinnen, wird es nicht als Diebstahl gesehen, sondern mehr als ein familiärer Kredit“. Die Beziehung zwischen Kai und seiner Freundin zerbrach nach diesem Vorfall.
Tipps für Angehörige
1. Ansprechen
Die betroffene Person immer wieder nach Problemen mit Glücksspiel fragen und Hilfe anbieten. Nicht wegsehen, sondern darüber sprechen!
2. Nicht verurteilen
Glücksspielsucht hat sich keiner ausgesucht. Es ist keine Charakterschwäche, sondern eine psychische Erkrankung. Zeigen Sie Verständnis.
3. Hilfe anbieten
Gemeinsam mit der betroffenen Person können Beratungsstellen recherchiert werden. Bieten Sie an, zum Ersttermin mitzugehen.
4. Niemals Geld leihen
Wenn Rechnungen bezahlt und Geld gegeben wird, hat die betroffene Person weniger Leidensdruck. Sie kann so nicht an ihrem eigenen Problem arbeiten. Statt Bargeld, können Gutscheine z.B. für den Supermarkt gegeben werden. Bargeld kann ggf. zum erneuten Glücksspiel verleitet.
(Tipps von Suchttherapeutin Beatrice Dittelbach)
Nach der Trennung war Kai zwei Wochen bei einem Freund und spielte weiter. „Jetzt ist eh alles egal. Ich habe meine Freundin nicht mehr, und alles andere ist nicht wichtig.“, so beschreibt er sein Gefühl von damals. Doch nach Gesprächen mit seinen Eltern und auch der Ex-Partnerin wurde ihm klar: „Ich kann jetzt nicht alles wegwerfen“. Er rief bei der Caritas an und ist seitdem dort in Therapie. Seitdem läuft es für ihn „sehr, sehr gut“.
Therapie um „spielfrei“ zu leben
In Einzelgesprächen und Gruppensitzungen befasst sich der Teamleiter umfassend mit seiner Spielsucht. Ziel der Therapie sei es, „spielfrei und glücklich zu leben“, so Beatrice Dittelbach. Viele Klienten könnten sich zunächst nicht vorstellen, auch ohne das Spielen zu leben. Da es meist mit Spaß begonnen habe, würde bei einigen auch eine Traurigkeit mitschwingen, darauf verzichten zu müssen. „Wer nicht daran glaubt, spielfrei leben zu können, wird es nicht schaffen“, prognostiziert die Therapeutin. Und um das zu gewährleisten, werden in der Therapie Perspektiven und Strategien entwickelt, um Rückfälle zu vermeiden und spielfrei leben zu können. Auch die Gründe für die Spielsucht werden aufgearbeitet, dabei können neue Gefühle ans Licht kommen, die bearbeitet werden müssen. „Wenn man spielt, denkt man nicht an seine Probleme“, beschreibt Kai. „Man hat zwar Probleme durch das Spielen – Geld zusammenkratzen – aber denkt nicht mehr an andere“. Früher als Schüler habe er immer Sorge gehabt, ausgeschlossen zu sein. Beim Spielen kann er hingegen „der Größte sein“. Da hat man „einen tollen Gewinn und fühlt sich auch so.“
Spielsucht ist nicht heilbar
Um einen Rückfall zu vermeiden, hat Kai in seiner Wohnung ein Maßnahmenplakat hängen, beschreibt er. Darauf zu lesen: die Nachteile des Spielens und die Vorteile, nicht zu spielen. Außerdem Ideen, was er tun kann, wenn der Druck doch wiederkommt. Denn auch wenn er sich jetzt wohlfühlt, kann das in Zukunft wieder passieren. Das ist ihm nach seinen Erfahrungen klar. Denn: Spielsucht ist nicht heilbar. Für ihn ist daher die wichtigste Maßnahme in Drucksituationen, „mit jemandem Kontakt zu suchen“. Früher hätte er sich geschämt und es weggeschoben. Heute hat er das Gefühl, Menschen anrufen zu können. In den vergangenen Wochen hat er zwar nicht das Gefühl, spielen zu müssen, kam aber schon in „unangenehme Situationen“. Da rief er dann einen Freund an, der mit ihm redete. Bei der Caritas dauert die ambulante Therapie in der Regel ein bis eineinhalb Jahre und setzt sich aus Einzel- und Gruppentherapiesitzungen zusammen. Der Vorteil: Man verbleibt im gewohnten Umfeld (Wohnung, Tätigkeit/Ausbildung) und setzt sich trotzdem einmal in der Woche mit der Glücksspielabhängigkeit auseinander. Kai weiß, wie schnell die Sucht das Leben bestimmen kann und hat sich daher vorgenommen, auch danach weiter Hilfe in Anspruch nehmen. Vielleicht weiter eine Selbsthilfegruppe besuchen. Und noch eins steht fest: Beim nächsten Tippspiel auf seiner Arbeit wird er wieder „Nein“ sagen (müssen).
Hilfsangebote
Bei der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) ist die zentrale Schnittstelle aller Organisationen im Bereich Prävention, Suchthilfe und Suchtforschung bei Glücksspielsucht. Hier finden sowohl Betroffene als auch Angehörige einen Überblick über das Hilfsangebot. Ein persönliche Online-Beratung bei Problemen mit Glücksspiel bietet die Plattform „PlayChange“. Die Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke in München in München bietet (altersunabhängig) Beratung, Vermittlung, ambulante Therapie bei Glücksspielsucht und Angehörigenberatung an.
MKR - Das Magazin, Episode 348 vom 6.9. Kapitel "Sportwetten" ab Minute 3:01