Krisen und Chancen
06.11.2024

Hochfunktionale Depression: Die unsichtbare Krankheit im Alltag

Äußerlich stabil, innerlich erschöpft: Betroffene einer hochfunktionalen Depression wirken leistungsfähig, kämpfen aber mit Erschöpfung, Reizbarkeit und sozialem Rückzug.

Foto: © VK Studio – stock.adobe.com

Den Arbeitstag durchziehen – und abends auf dem Sofa verzweifeln. Sich zum Sport schleppen, weil Bewegung ja gut tun soll - ohne Motivation oder Erfolgsgefühl. Treffen mit Freundinnen oder Kollegen absagen - weil man von allem und allen genervt ist. So kann sich eine oft unerkannte Form von Depression anfühlen. „Hochfunktional" sagen Fachleute, manchmal auch „verdeckte Depression" oder im Englischen „smiling depression".

Die Anzeichen einer „klassischen" Depression zeigen sich in diesen Fällen oft erst im späteren Verlauf: starke Niedergeschlagenheit oder fehlender Antrieb zum Beispiel. Menschen mit einer hochfunktionalen Depression bleiben dagegen lange stabil. „Sie sind von ihrer Persönlichkeitsstruktur her häufig aktiv, leistungsorientiert, gut organisiert, Problemlöser", sagt die Psychiaterin Michelle Hildebrandt im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Ihr Buch „Hochfunktionale Depression. Das übersehene Leiden" ist im Oktober erschienen.


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Typische Anzeichen: So äußert sich die unsichtbare Depression

„Akute depressive Episode", das ist inzwischen die häufigste Diagnose in der ambulanten Psychotherapie. Die Deutsche Stiftung Depressionshilfe betont, dass die Erkrankung dennoch oftmals unterschätzt wird - auch heute noch. Zudem kursierten viele falsche Vorstellungen; Depression habe indes viele Gesichter und sei nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Die Erkrankung könne jede und jeden treffen, sagt der Stiftungsvorsitzende Ulrich Hegerl –häufig auch Menschen, von denen andere dies weniger vermuten würden.

5,3 Millionen Menschen erkranken laut Stiftung jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression. Hildebrandt schildert anschauliche Fallbeispiele und listet Symptome der hochfunktionalen Depression auf. Reizbarkeit und Unruhe sind dann beispielsweise stärker ausgeprägt. Hinzukommen können – je nach Anfälligkeit – Schlafstörungen oder körperliche Beschwerden.

„Betroffene merken häufig, dass sie im Alltag fahrig werden", erklärt die Expertin. „Manche reduzieren die sozialen Kontakte, weil sie ihre Energie brauchen, um bei der Arbeit oder in der Versorgung der Kinder weiter zu funktionieren." Mitunter falle es zunächst vertrauten Personen auf, wenn jemand schneller an die Decke gehe als üblich.

Selbstwert und Leistung: Innere Konflikte der Betroffenen

„Funktionieren", der Begriff ist in der Öffentlichkeit eher negativ besetzt; er klingt nach einer Maschine, die zuverlässig weiterläuft, dabei aber emotionslos und unbeteiligt bleibt. Wenn Menschen im Zuge einer anhaltenden Überforderungssituation eine Depression entwickeln, brauchen sie oft eine längere Auszeit, eine Therapie, vielleicht auch Medikamente, sagt Hildebrandt.

Allerdings: Wer sich aus der Depression in die Arbeit flüchte, sei „ein super Arbeitnehmer", sagt der Schriftsteller Till Raether im Buch „Das andere Gesicht" von Katty Salie. Betroffene grüben sich tief in die Arbeit ein, um sie „bestmöglich zu machen, damit du Anerkennung als Gegenmittel zu deinen Selbstzweifeln bekommst". Solche Verhaltensmuster werden in einer Therapie durchleuchtet, erklärt Hildebrandt. Häufig hätten Betroffene sogenannte dysfunktionale Grundannahmen verinnerlicht, zum Beispiel: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste".

Um gegenzusteuern, muss die Erkrankung freilich erst einmal erkannt werden. Daran hapert es nach Worten der Psychiaterin auch im Gesundheitswesen. „Betroffene gehen von Arzt zu Arzt wegen körperlicher Beschwerden, aber da sie nicht 'depressiv aussehen' und sich auch nicht so verhalten, erkennt niemand das zugrundeliegende Problem. Das Wichtigste ist, die Depression zu erkennen und anzuerkennen."

Work-Life-Balance bietet Chance

Hildebrandt bricht in ihrem Buch zugleich eine Lanze für Leistungsbereitschaft. Auch Motivation und Ausdauer, Flexibilität oder die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben - all dies seien Ressourcen, die bei der Bewältigung einer Depression hilfreich sein könnten. Immer wieder beobachte sie jedoch, dass Menschen sich jahrelang aufrieben und nach einem Zusammenbruch dächten: „Nein, jetzt bin ich krank, jetzt mache ich gar nichts mehr."

Bei vielen Menschen scheine noch nicht recht angekommen zu sein, dass es heute eine geringe Arbeitslosigkeit gebe und dass die Work-Life-Balance in vielen Unternehmen eine größere Rolle spiele als noch vor zehn oder 20 Jahren. Dabei liege in diesen gesellschaftlichen Veränderungen eine große Chance - eben die auf eine Balance zwischen Leistung und Loslassen, Ehrgeiz und Erholung, Motivation und Muße. „Wichtig ist, etwas zu finden, wofür es sich lohnt, sich anzustrengen und auch mal eine Durststrecke durchzustehen", sagt die Autorin.

Lange Wartezeiten auf Therapieplatz

Wie viele Fachleute beklagt auch Hildebrandt, dass depressiv Erkrankte „viel zu lange" auf einen Therapieplatz warten müssten. Der Anspruch auf Akutsprechstunden innerhalb von vier Wochen sei ein erster sinnvoller Schritt, den die Politik in die Wege geleitet habe. Zugleich brauche es aber Aufklärung, denn viele Patientinnen und Patienten nutzten in ihrer Not „die Therapieform, die sie kriegen können, obwohl es vielleicht gar nicht das geeignete Verfahren ist". Hier seien auch Therapeutinnen und Psychologen gefragt, die einzelnen Fälle genau zu prüfen und entsprechend zu beraten.

Zum Weiterlesen
Hildebrandt, Michelle Hochfunktionale Depression. Das übersehene Leiden
HIRZEL, STUTTGART, 2024
22,00 €
Versandkostenfrei in DE
Noch nicht erschienen. Erscheint laut Verlag/Lieferant: Oktober 2024
Salié, Katty Das andere Gesicht
KIEPENHEUER & WITSCH, 2023
25,00 €
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KNA
Artikel von KNA
Katholische Nachrichten-Agentur
Die Katholische Nachrichten-Agentur wird von der kath. Kirche getragen mit Sitz in Bonn.