Suizidprävention: Den „Werther-Effekt“ verhindern
2020 hat ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bestätigt, auch mit Hilfe Dritter. Assistierte Suizide sind seitdem möglich. Die Malteser unterstützen deshalb ein Suizidpräventionsgesetz, um das der Bundestag zurzeit fraktionsübergreifend ringt. Das könnte die Praxis assistierter Suizide zumindest eindämmen. Karin Gollan leitet bei den Maltesern Deutschland die Fachstelle Ethik und erklärt im Interview, was Suizidprävention aus Sicht der Malteser leisten muss, und welche Menschen damit besonders geschützt werden.
Als Malteser haben Sie Bedenken gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts angemeldet. Welche ethischen Konflikte birgt das Urteil aus Ihrer Sicht?
Nach unserem Verständnis greift das Autonomieverständnis, das das Bundesverfassungsgericht hier erkennen lässt, zu kurz. Der Mensch ist kein autarkes Wesen, das die ganze Zeit selbstbestimmt handelt, sondern er ist immer auch auf andere angewiesen. Das kann mal mehr sein, das kann mal weniger sein. Insbesondere am Anfang des Lebens ist das mehr, und auch am Ende des Lebens ist der Mensch mehr auf andere angewiesen. Also unser Verhalten ist immer auf ein Gegenüber ausgerichtet und wirkt auch auf das Verhalten von anderen ein. Das bezeichnen wir als relationale Autonomie. Also Selbstbestimmung findet immer in Beziehungen statt. Und das kommt aus unserer Sicht nicht genügend zum Tragen in dem Urteil.
Außerdem haben wir Bedenken, dass der gemachte Tod, der assistierte Suizid, jetzt als ein Tod in Würde gilt und dass er als gesellschaftlicher Fortschritt wahrgenommen wird. Wir haben große Bedenken, was das für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben wird. Wir machen uns Sorgen, dass Menschen noch mehr Angst haben, anderen zur Last zu fallen, ihrer Familie, dem Umfeld, der Gesellschaft insgesamt.
Und was das für Auswirkungen hat auf Personen, die unter Einsamkeit leiden, die vielleicht Sorge haben vor Pflegebedürftigkeit, die eine lebensverkürzende Erkrankung haben, finanziell unter Druck stehen. Das ist unsere Sorge, dass die sich dann einem enormen Druck ausgesetzt fühlen, diesen gemachten Tod für sich in Anspruch zu nehmen.
Deshalb fordern Sie ein Schutzkonzept für vulnerable Gruppen.
Genau. Wir denken, dass es zunächst ein Suizidpräventionsgesetz geben muss, bevor dann der Umgang mit dem assistierten Suizid geregelt wird. Und wir sehen, dass insbesondere die Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben und versorgt werden, zu einer besonders vulnerablen Gruppe gehören.
Wir wissen auch, dass das Risiko für einen assistierten Suizid insbesondere im Alter steigt. Deswegen sind gerade die pflegebedürftigen Menschen, die in einer Pflegeeinrichtung leben, besonders vulnerabel und gefährdet. Die Malteser als Träger von solchen Pflegeeinrichtungen setzen sich dafür ein, dass sich Einrichtungen zu sogenannten geschützten Räumen erklären können.
Das bedeutet, dass weder Mitarbeitende in diesem geschützten Raum einen assistierten Suizid durchführen, noch dass solche Einrichtungen zulassen müssen, dass Organisationen von außerhalb, also zum Beispiel Suizidassistenzorganisationen, den assistierten Suizid in diesen Einrichtungen durchführen. Denn wir wissen aus der Forschung, dass es im Zusammenhang mit Suizid einen „Werther-Effekt“ gibt, also ein Nachahmungseffekt, dass quasi der assistierte Suizid ansteckend sein kann und dass es eine Auswirkung hat, insbesondere auf vulnerable Personen, wenn sie in ihrem direkten Umfeld, also zum Beispiel im Nachbarzimmer, erleben, dass dort jemand assistierten Suizid in Anspruch nimmt. Dann werden sie das vielleicht auch für sich selbst erwägen, vor dem Hintergrund ihrer Pflegebedürftigkeit, vor dem Hintergrund ihrer Einsamkeit, vor dem Hintergrund ihrer schweren Erkrankung.
Die aktuelle Rechtslage
Jeder Mensch hat das Recht, frei über seinen Tod zu entscheiden. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seinem Urteil 2020 klargestellt.
Aktive Sterbehilfe aber ist verboten – also wenn ein Helfer selbst den Tod des Menschen mit Sterbewunsch herbeiführt oder beschleunigt, zum Beispiel durch die Verabreichung einer Überdosis eines tödlich wirkenden Medikaments.
Der assistierte Suizid hingegen ist durch das Urteil faktisch legalisiert worden. Indirekte Sterbehilfe ist seitdem erlaubt, der Betroffene muss den letzten Schritt dabei aus freiem Entschluss selbst gehen.
Wir haben für unsere Mitarbeitenden im Malteser-Verbund eine klare Leitlinie kommuniziert. Mitarbeitende der Malteser dürfen sich nicht an assistierten Suiziden in unseren Einrichtungen und Diensten beteiligen. Außerdem haben wir klargestellt, dass wir in unseren Einrichtungen die Suizidassistenz, zum Beispiel von Suizidassistenzvereinen, nicht tolerieren werden. Wir haben die Verträge in den Pflegeeinrichtungen der Malteser entsprechend umgestellt und sind da auch ganz transparent. Bereits im Einzugsprozess informieren wir künftige Bewohnerinnen und Bewohner und deren An- und Zugehörige über unsere Haltung und über unser Konzept.
Das heißt also, wir haben uns bereits als einen solchen Schutzraum deklariert, in dem assistierter Suizid weder durch uns noch durch andere durchgeführt wird. Zudem versuchen wir, unsere Mitarbeitenden im Umgang mit Todeswünschen und Suizidassistenz zu schulen und fortzubilden. Wir informieren sie regelmäßig über das, was es bei uns im Verbund an Unterstützungsmöglichkeiten gibt, Erneuerungen, auch Diskussionen in der Gesellschaft, wie gerade die Debatte über das Suizidpräventionsgesetz oder die Regulierung der Suizidassistenz.
Wir wollen das Thema Suizidalität für unsere Einrichtungen enttabuisieren und unsere Mitarbeitenden darin bestärken, mit Betroffenen zu sprechen, also Todeswünsche auch proaktiv anzusprechen. Denn wir wissen auch hier aus der Forschung, dass Menschen, die pflegebedürftig sind, die eine schwere Erkrankung haben, den Gedanken haben: Wäre es nicht besser, wenn ich jetzt schon tot wäre. Insofern passiert nichts Schlimmes, wenn Mitarbeitende das proaktiv ansprechen oder auch reagieren, wenn sie von den Bewohnerinnen und Bewohnern darauf angesprochen werden, sondern es bietet einen Raum für Entlastung. Aus unserer Sicht bedeutet ein solcher Todeswunsch nicht, dass der Mensch sterben will, sondern dass er uns sagt, er kann so, wie es jetzt ist, nicht weiterleben. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es dann zu schauen, können wir etwas an der Situation verändern, sodass der Mensch sich ein Weiterleben vorstellen kann.
Wir betrachten eine Patientenverfügung durchaus als eine Alternative zum assistierten Suizid. Und zwar insofern, dass ja viele Menschen Sorge davor haben, am Ende ihres Lebens einer Intensivmedizin, einer Apparatemedizin hilflos ausgeliefert zu sein. Und in der Auseinandersetzung mit dem Thema Patientenverfügung bietet sich die Möglichkeit, Menschen deutlich zu machen, dass sie nicht ausgeliefert sind, sondern dass sie das Recht haben, sich gegen lebenserhaltende Maßnahmen zu entscheiden.
Dass sie sich zum Beispiel für einen Therapiezielwechsel in bestimmten Situationen entscheiden können. Das bedeutet also einen Wechsel von einer lebenserhaltenden hin zu einer palliativen, sterbebegleitenden Therapie. Und wir sehen auch eine große Chance darin, wenn man dann gemeinsam mit den rechtlichen Vertretungspersonen, das heißt also Bevollmächtigten oder Betreuerinnen und Betreuern, mit den Angehörigen, mit dem behandelnden Arzt zum Thema Patientenverfügung in den Dialog gehen kann, besprechen kann, was man möchte oder nicht.
Dass dann Sorgen und Ängste vor einem in die Länge gezogenen schwierigen Sterbeprozess in den Hintergrund treten können. Und die Malteser bieten seit über 20 Jahren eine eigene Patientenverfügung an. Die kann man auf unserer Website kostenfrei herunterladen oder bestellen. Und wir informieren auch in persönlichen Gesprächen und unterstützen bei der Erstellung einer Patientenverfügung.
Wie sehen Sie die Zukunft: Ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Büchse der Pandora geöffnet worden? Überwiegen bei Ihnen die Sorgen, oder haben Sie auch Hoffnung?
Ich sehe auf jeden Fall zum einen die Chance, dass wir über das Thema Suizidalität ins Gespräch kommen. Dass das enttabuisiert wurde mit diesem Urteil. Und ich sehe auch die große Chance, über ein Suizidpräventionsgesetz zu einer strukturellen Stärkung der Suizidprävention zu kommen. Und das brauchen wir unbedingt, denn die ist in unserem Land absolut unterfinanziert, da gibt es noch ganz viel Entwicklungspotenzial.
Aber mit dem Urteil wurde aus unserer Perspektive auch eine schiefe Ebene beschritten hin zu einer Normalisierung. Ich glaube, dass sich dieser Weg nur noch mit viel Mühe wird aufhalten lassen. Denn wir sehen, dass die Zahlen an assistierten Suiziden in Deutschland steigen. Wir haben hier leider keine verlässlichen offiziellen Daten, weil es bislang kein Melderegister gibt für assistierte Suizide. Aber das, was wir von den Suizidassistenzorganisationen widergespiegelt bekommen, das zeigt schon, dass die Zahlen steigen. Das, was von den Befürwortern vorgebracht wird, entpuppt sich letzten Endes als Trugschluss. Denn gewaltsame Suizide nehmen nicht durch die Möglichkeit, einen assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen, ab.
Und wir sehen auch im Ausland, dass die Zahlen kontinuierlich steigen. Wenn wir zum Beispiel auf die Schweiz blicken, dann hat sich von 2010 bis 2018 die Zahl der assistierten Suizide verdreifacht. Wenn wir das umrechnen auf deutsche Verhältnisse, dann wären das zwischen 18.000 und 20.000 assistierte Suizide pro Jahr in Deutschland.
Ich hoffe, dass es nicht so weit kommen wird. Aber ich glaube, dass das die Realität ist, auf die wir uns einstellen müssen. Umso wichtiger erscheint es uns, dass wir uns insbesondere für die verletzlichen Personengruppen einsetzen müssen. Eben mit der gesetzlichen Ermöglichung von sogenannten geschützten Räumen in Pflegeeinrichtungen oder stationären Hospizen.
Hilfe bei Suizidgedanken
Wenn Sie von Suizidgedanken betroffen sind, bieten der Krisendienst Bayern unter 0800 655 3000 oder die Telefonseelsorge unter 0800 1110111 oder 0800 1110222 kompetente und kostenlose Unterstützung rund um die Uhr.
Außerdem können Sie sich an den Malteser Dienst "Todeswünschen im Gespräch begegnen" wenden. Claudia Hanrieder ist für Sie da: Tel. 08031-80957255 - claudia.hanrieder@malteser.org - www.malteser-rosenheim.de.