Nach dem Unfalltod ihrer Tochter: Warum eine Mutter dem Täter vergeben hat
Ein schwerer Autounfall – zwei Menschen sterben, darunter die Tochter von Sabrina Schneider. Doch anstatt in Hass zu versinken, sucht sie den Kontakt zum Unfallverursacher.

14. September 2020. 9.43 Uhr. „Mamilein, ich hab dich soooo lieb“ erscheint auf dem Display von Sabrina Schneider. Die Nachricht ist von ihrer Tochter Sydney. Die beiden haben ein enges Verhältnis. Auch, wenn die Entfernung zwischen ihnen groß ist: Die Mutter lebt in Wiesbaden, Sydney in Dresden. Die 26-Jährige studiert dort regenerative Biologie und Medizin im Master. An dem Tag trifft sie sich mit einem jungen Mann. Die beiden wollen zusammen zum See fahren. Sydney hat ihrer Mutter davon erzählt. Als sich ihrer Tochter an dem Tag nicht mehr meldet, wundert sich Sabrina Schneider nicht weiter. Sie geht davon aus, dass sie einen schönen Tag hat.
21.43 Uhr. Die Uhrzeit steht auf dem Totenschein. Auf die Minute 12 Stunden nach der Nachricht an ihre Mutter ist Sydney tot. Gestorben bei einem Autounfall. Sie und ihr Begleiter stehen mit ihrem Auto am Stauende. Ein LKW-Fahrer fährt auf ihr Auto drauf und schiebt es unter einen vor ihnen stehenden LKW. Sydney stirbt noch an der Unfallstelle. Ihr Begleiter zwei Tage später im Krankenhaus.
Ein halbes Jahr später: Schneider schreibt eine Facebook-Nachricht. Sie ist adressiert an einen Mann aus Tschechien. Es ist der LKW-Fahrer, der den Unfall ihrer Tochter verursacht hat. Viele haben ihr von der Kontaktaufnahme abgeraten. Doch sie wollte wissen, wer der Mann war. Sie hoffte, dass sie nicht auf einen “schlimmen Menschen” trifft. Er sollte sich seiner Tat und den Konsequenzen bewusst sein. Wut oder Hass fühlte sie in Bezug auf den Fahrer nicht, beschreibt sie die damalige Situation: „Der Schmerz hat überwogen“. Für alles andere habe sie keine Kapazität gehabt. Auch das Bedürfnis nach Rache fühlte sie „komischerweise nicht“.
Die erste Nachricht an den Unfallverursacher
Auf dem Facebook-Profil des Mannes sieht sie allerdings dann Bilder, die ihn lachend mit seiner Tochter zeigen. In dem Moment dachte sie: „Boah, dir geht´s gut […] der lebt sein Leben und für ihn ist es egal.“ Sie war sauer. Auf Englisch hat sie ihn angeschrieben und ihn beschuldigt: „Du hast Spaß mit deiner Tochter. Ich habe keine Tochter mehr. Du hast sie umgebracht.“ Erst später erfuhr sie, dass die Bilder vor dem tödlichen Unfall entstanden sind.
Auf ihre Nachricht bekam sie direkt eine Antwort. Daraus entwickelte sich ein regelmäßiger Kontakt. Ihr war es wichtig, dass der Verursacher erfasst, was da passiert ist. Das Ende ihrer Tochter sollte nicht in einer dunklen Ecke verschwinden: „Das ist letztlich genauso wichtig wie die Geburt.“ Fast ein Jahr schrieben und telefonierten sie. In der Zeit konnte er ihr „glaubhaft“ vermitteln, dass es ihm leidtut. Sie spürt, dass er sich mit dem Geschehenen auseinandersetzt: „Er versteht, was passiert ist. Wie groß der Schmerz ist, den er angerichtet hat.“ Er sei ein „ganz feinfühliger Mensch“, beschreibt sie den Familienvater, der damals Ende 30 war.
Immer wieder hat er den Kontakt zu ihr gesucht. Schneider wurde bewusst, „dass ich diejenige bin, die ihn wieder leben lässt, die ihm irgendwie gestattet, ein Leben zu führen.“ Letztlich kam es in den Monaten dann auch zu dem Moment, in dem sie ihm sagte, dass sie keine Wut auf ihn habe. Sie hat ihm vergeben. An meinem Schicksal als Mutter kann ich nichts mehr ändern, sagt sie: “ Mein Kind ist tot. Aber am Schicksal des Unfallverursachers lässt sich noch was verbessern.“
Wie Vergebung heilen kann
Vergebung bedeute nicht, jemanden von der Verantwortung frei zu sprechen, sondern die Schuldanklage wegzunehmen, definiert Psychotherapeutin Isabelle Überall. Sie arbeitet bei der Ehe- Familien- und Lebensberatung im Erzbistum München und Freising. Man erkenne den Fehler des anderen an, könne ihn dann aber so stehen lassen und gehen, erklärt sie. Es sei ein „innerer Prozess“ um sich von „belastenden Gefühlen wie Groll, Schmerz und Wut zu befreien“. Sabrina Schneider ist das nach dem Tod ihrer Tochter gelungen. „Wenn ich den Menschen nur genug hassen müsste, damit meine Tochter wiederkommt, dann würde ich das machen - aber das ist eine Sackgasse.“, sagt Schneider. Ihre Wut „wäre genauso ins Leere gelaufen wie der Schmerz“. So konnte sie sich mit ihrer wenigen Energie auf die Liebe zu Tochter und ihren eigenen Erhalt fokussieren.
Vergebung sei eine Bewältigungsstrategie, so Überall, um zu einer „inneren Heilung“ zu gelangen. Die Reue des Täters sei dabei nicht notwendig. Es gehe darum, dass man selbst mit der Situation klarkommen und weiterleben will. Anders als beim Verzeihen. Da geht es darum, eine Beziehung fortzusetzen, der Akt ist somit auf den anderen ausgerichtet. Fastenzeit Normalerweise verzichten wir in der Fastenzeit auf etwas. Wie wäre es, in diesem Jahr mal das Gegenteil zu tun - und besonders verschwenderisch zu sein? Zu verschwenden gäbe es viel: Zeit und Geld, Freude und Liebe, Kraft und Hoffnung. Ideen wie so etwas aussehen könnte, finden Sie in der aktuellen Ausgabe! Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.[inne]halten - das Magazin 6/2025
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Unverständnis: Vergebung nicht für jeden nachvollziehbar
Sabrina Schneider hat in Foren den Kontakt zu anderen Betroffenen gesucht. Dort stieß sie auf Unverständnis, dass sie mit den Unfallverursacher Kontakt aufgenommen und ihm vergeben hat. Viele Menschen dort seien verbittert, sagt Schneider. Für Überall ist das nachvollziehbar: „Menschen, die in einer Verletzung festhängen, können mit der Zeit verbittern.“ In der Diagnostik gebe es auch die chronische Verbitterungsstörung. Diese kann zu einer Depression werden. Die Menschen sehen alles negativ, ziehen sich aus der Welt zurück und vertrauen niemandem, so Überall: „Freundschaften und Beziehungen können zerbrechen“. Und auch körperliche Auswirkungen von Schlafstörungen bis zu schweren Erkrankungen seien denkbar.
In dem Sinne könne Vergebung auch als ein „Akt der Selbstheilung“ gesehen werden. Indem Schneider die Situation für sich „befriedet“ hat, bringt es für sie auch Stück „Sinnhaftigkeit“: Der Unfallverursacher erzähle es vielleicht seinen Kindern und die tragen das wieder weiter. So würde weiterverbreitet, dass man auch anders als mit Hass in einer solchen Situation umgehen kann. Für Schneider war das der richtige Weg. Für andere kann es auch in Ordnung sein, die negativen Gefühle stehen zu lassen und den anderen nicht aus seiner Verantwortung zu entlassen. Vergebung ist kein Muss. Wichtig ist, dass man nicht in den belastenden Gefühlen verstrickt bleibt, „sondern weitergehen kann“, so Überall.
Robert D. Enright ist zugelassener Psychologe und Professor für Erziehungspsychologie an der University of Wisconsin-Madison. In seinem Buch „Vergebung als Chance. Neuen Mut fürs Leben finden“ schreibt er:
Unversöhnlichkeit, Bitterkeit, Ressentiments und Wut sind den vier Mauern einer Gefängniszelle vergleichbar. Vergebung ist der Schlüssel, mit dem Sie die Gefängnistür öffnen, sodass Sie aus dieser Zelle heraustreten können.
Das Strafmaß des Unfallverursachers kennt Sabrina Schneider nicht. Sie war nicht bei der Gerichtsverhandlung. Nach dem Tod ihrer Tochter begab sich die Mutter auf eine Suche – ohne genau zu wissen, wonach. Sie hat viel gelesen - christliche Lektüre, hat sich mit dem Buddhismus und verschiedenen Philosophen beschäftigt. Eine spirituelle Verankerung könne beim Vergebungsprozess helfen, so die Therapeutin Überall: „Die bringt es in einen Zusammenhang“ So heißt es zum Beispiel im Vaterunser, dem ältesten Gebet der Christen: „Auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Wenn es für jemanden also wichtig sei, sein Leben nicht im Vorwurf zu leben und dem anderen zu vergeben könne das den Vergebungsprozess unterstützen. Auf ihrer Suche hat Sabrina Schneider erkannt, dass die Liebe bleibt: „Mein Gefühl zu meiner Tochter hat sich nicht geändert, ob sie jetzt da ist oder nicht. Das Gefühl ist genau das gleiche.“