Krisen und Chancen
21.01.2025

"Housing First"

Ein Zuhause für wohnungslose Frauen

Wohnungslosigkeit trifft Frauen anders – oft unsichtbar und voller Herausforderungen. Das Berliner Projekt „Housing First für Frauen“ bietet betroffenen Frauen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern eine neue Perspektive.

Foto: © Eliza – stock.adobe.com

Rozzy Kamau (Name von der Redaktion geändert) saß in einem Büro des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) in Berlin und weinte. Sie hatte einen autistischen Sohn, war schwanger, konnte kein Deutsch und hatte nach vier Jahren in Deutschland noch immer keinen festen Wohnsitz. Erst hatte sie im Asylbewerberheim gewohnt, dann beim Vater ihres ersten Kindes, dann bei einer Freundin. Doch ihr Sohn biss und kratzte das Kind ihrer Freundin – und sie musste wieder ausziehen. Kamau wollte in einem Frauenhaus unterkommen und wurde abgelehnt – weil sie keinen Partner hatte, der gewalttätig war. „Ich war völlig verzweifelt und kurz davor aufzugeben“, sagt sie. „Ich wusste nicht, wie es weitergehen soll.“


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„Verdeckte Wohnungslosigkeit“: Frauen bleiben oft unsichtbar

Gerettet hat sie das Projekt „Housing First für Frauen“ vom SkF, das gezielt für wohnungslose Frauen gedacht ist. Esther Köb-Koutsamanis, die beim SkF für die Wohnraumakquise zuständig ist, sagt: „Frauen sind anders obdachlos als Männer. Sie sind nicht da, wo man wohnungslose Menschen sonst antrifft: an Bahnhöfen, unter Brücken, auf Supermarktparkplätzen.“ Diese Orte seien für Frauen zu unsicher. Sie kämen eher bei Bekannten unter oder böten Dienstleistungen im Gegenzug für eine Unterkunft an, so Köb-Koutsamanis. Deshalb spreche man bei Frauen von „verdeckter Wohnungslosigkeit“.

Betroffen sind Frauen aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten. „Wir haben viele junge Frauen, die direkt aus der Jugendhilfe zu uns kommen, aber auch Frauen, die 60 bis 70 Jahre alt sind. Darunter sind Frauen ohne Ausbildung und Frauen mit Doktortitel“, sagt Köb-Koutsamanis. Im Housing-First-Projekt besorgt der SkF den Menschen zuerst eine Wohnung und kümmert sich danach um ihre sonstigen Sorgen, etwa um Suchterkrankungen oder psychische Probleme. Mit ihrem multiprofessionellen Team unterstützt der SkF die Frauen so lange, wie sie es brauchen.

Neue Chancen: Der Weg in ein selbstbestimmtes Leben

Als Rozzy Kamau 2022 zum ersten Mal beim SkF vor der Tür stand, erzählte sie Köb-Koutsamanis ihre ganze Geschichte: wie sie vor vier Jahren auf der Durchreise in Deutschland war, am Flughafen in Frankfurt kein Visum vorweisen konnte und in Transithaft kam – und wie sie einen Asylantrag stellte, weil sie Angst hatte, nie wieder nach Deutschland reisen zu können, wenn sie erst wieder in Kenia zurück ist. Schließlich war es ihr Traum, in Deutschland zu leben – nur nicht so plötzlich und unvorbereitet. Köb-Koutsamanis nahm sich viel Zeit, beruhigte Kamau und erklärte ihr, wie sie bei der Sozialen Wohnhilfe eine Unterkunft bis zur eigentlichen Wohnungsvermittlung von Housing First beantragen konnte.

„Für uns ist es ein fürchterlicher Zustand, dass wir 200 Personen auf der Warteliste stehen haben“, sagt Köb-Koutsamanis. Der SkF würde das Projekt gern vergrößern, um mehr wohnungslosen Frauen zu helfen. Doch das Geld im Berliner Senat ist knapp. Deshalb seien zusätzliche Zuwendungen kaum realistisch, sagt Köb-Koutsamanis. Dabei hat Housing First Erfolg: Von den 117 Frauen, die seit 2018 vermittelt wurden, leben 98 Prozent immer noch in ihren Wohnungen.

„Housing First“ als Modell für soziale Gerechtigkeit

Damit die Wohnungsvermittlung funktioniert, müssten einige Fragen geklärt werden, sagt Köb-Koutsamanis. Vor allem: Wer bezahlt die Miete? In der Regel sind das die Jobcenter. Sobald alle Unterlagen vorliegen, bespricht Köb-Koutsamanis mit den Frauen Details zur Wohnung. „Manche Frauen möchten besonders weit weg von ihrem Expartner wohnen – oder Mütter in der Nähe der Kita ihrer Kinder“, sagt sie. Mit ihrem Netzwerk aus Wohnungsgesellschaften und privaten Vermietern macht sich Köb-Koutsamanis auf die Suche. Die Angebote, die sie erhält, sind in der Regel noch nicht auf dem freien Markt. „Wir bekommen oft zu hören, dass dadurch die Wohnungslosen bevorzugt würden“, sagt Köb-Koutsamanis. „Wir finden, das ist ausgleichende Gerechtigkeit.“ Nach einer Besichtigung müssen sich die Frauen entscheiden und die Kostenübernahme vom Amt beantragen – dann können sie einziehen.

Bei Kamau hat sich wegen der Geburt ihrer Tochter und Corona die Vermittlung verzögert. Im Mai 2024 war es endlich so weit: Sie konnte nun eine Drei-Zimmer- Wohnung im Norden Berlins für rund 850 Euro Miete ihr Zuhause nennen. „Der Fakt, dass ich einen Schlüssel hatte, mein Name an einer Tür – das hat mir alles bedeutet. Ich habe mich so gefreut, das kann ich gar nicht in Worte fassen“, sagt Kamau. „Housing First hat mir so eine große Last von den Schultern genommen.“ Endlich habe sie die Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. Ihr autistischer Sohn bekommt mittlerweile Logopädie und Ergotherapie und macht Fortschritte. Kamau selbst macht einen Deutschkurs und will im April eine Ausbildung in der Pflege beginnen. Bei allen Herausforderungen, die sie seit dem Einzug meistern musste, war das Housing-First-Team an ihrer Seite. Sie sagt: „Ich denke oft darüber nach: Was wäre passiert, wenn ich Housing First nie begegnet wäre? Wo wäre ich dann – und wo wären meine Kinder?“

Jasmin Lobert