Clemens Sedmak über den Suizid seines Sohnes:
Wie Glaube nach dem Verlust weiterleben kann
Für Clemens Sedmak und seine Familie wurde das Unvorstellbare zur Realität: Ihr Sohn Jonathan nahm sich mit nur 15 Jahren das Leben. Seitdem ist für den Vater – und den renommierten Theologen – nichts mehr, wie es war. Der Verlust stellt nicht nur sein Leben, sondern auch seinen Glauben auf eine neue Grundlage.

„Die Pandemie hat Jonathan die Lebenskraft genommen“, sagt Clemens Sedmak. Fünfzehn Jahre und sieben Monate war er alt, als er starb, still, in der Nacht. „Unser sanfter Bub hat seine schlafenden Eltern weder gestört noch stören wollen.“ Aber er hat ihr Leben auf immer in zwei Phasen geteilt:in ein Davor und ein Danach. „Das Leben liegt in Scherben“, sagt Sedmak (53). „Da ist etwas, das wird nie wieder heil. Jedes Jahr am Geburts- und Todestag bricht es wieder auf. Und eigentlich an jedem Tag.“ Solche Sätze sagt der Theologe im Video-Interview – und er schreibt sie in seinem Buch „Wenn das Unvorstellbare geschieht“.
Schreiben als Verarbeitung
Warum ein Buch, vier Jahre nach dem Suizid des Sohnes? „Wenn so etwas passiert, muss man mit den Werkzeugen zurechtkommen, die man hat“, sagt Sedmak. „Meine Frau malt, ich schreibe.“ Dabei ist das Schreiben für ihn mehr als Therapie oder Trauerarbeit. „Ich habe gemerkt, dass danach vieles auf dem Prüfstand stand“, sagt er, „auch meine Theologie. Das Buch ist das Ergebnis des intensiven Nachforschens.“
Glaube ohne Gewissheit
Was den Professor für Sozialethik heute umtreibt, ist die Brüchigkeit
des Lebens und was sie für das Denken und den Glauben bedeutet. „Früher
hatte ich eine viel größere Denksicherheit“, sagt Sedmak. Es sei ihm
mehr um feste Glaubenssätze gegangen, um Unumstößliches: „Heute habe ich
mehr Fragen als Antworten.“ Auch was Gott und Theologie betrifft. „Was
wissen wir denn schon?“, fragt er. Diese Ungewissheit sieht Sedmak aber nicht als
Nachteil. „Jonathans Tod ist eine Wunde, die nie heilen wird“, sagt er.
„Aber aus ihr kann Heilvolles wachsen.“ Dieses Heilvolle ist für den
Österreicher zum Beispiel ein anderer Blick auf das Leben: „Ich weiß jetzt, dass ich vieles nicht so wichtig nehmen will.“
Ein anderer Blick auf Leistung und Lebenssinn
Das hat Folgen, auch in seinem Beruf an der katholischen Universität Notre-Dame im US-Bundesstaat Indiana. „Wir gelten als eine Elite-Uni, nur neun Prozent der Bewerberinnen und Bewerber werden angenommen“, sagt er.„Bei uns herrscht wahnsinniger Leistungsdruck, viele Studierende haben psychische Probleme, zum Beispiel Essstörungen.“ Hier will er gegensteuern. „Ich versuche ganz bewusst, Druck rauszunehmen“, sagt Sedmak. Schließlich sei er „Teil dieser Leidensgemeinschaft“. Seine neue Art, zu fragen, statt zu dozieren, kommt nicht bei allen gut an. „Diejenigen unserer Studierenden, die sehr gläubig sind, wollen oft absolute Sicherheit und definitive Antworten“, sagt er. Sie hätten aber Respekt davor, dass seine Lehre aus einer existenziellen Erfahrung gespeist wird: „Ich sage ihnen ganz offen: ‚Es mag euch trösten, dass ihr diese Sicherheit habt. Ich habe sie nicht!‘“
Globale Erfahrungen als Quelle von Weisheit
Auch die derzeitige politische Situation in den USA sieht Sedmak
gelassener, als er es früher getan hätte. „Ich erwarte nicht zu viel von
dieser Welt“, sagt er.„Ich glaube nicht, dass sie das Heil bringt, und erwarte keine
letzten Antworten von der Politik.“ Das gilt auch für andere Krisenherde
dieser Welt. „Ich habe kürzlich ein Seminar organisiert, in dem Menschen aus zehn
Ländern und aus verschiedenen Hintergründen zusammengekommen sind, um über das zu sprechen, was sie alle eint: dass sie disruptive,
transformative Erfahrungen selbst gemacht haben.“ Aus der Ukraine seien
Teilnehmer angereist, aus dem Libanon, aus Irland. Manche hätten
Angehörige verloren, andere ihre Heimat. „Wir wollen herausfinden, wie
solche Erfahrungen eine Quelle der Weisheit sein können“, sagt Sedmak.
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Ein Himmelskind bleibt Teil der Familie
Und wie ist es mit seinem persönlichen Glauben? Hat der sich verändert durch den Suizid seines Sohnes? „Nicht in dem Sinne, dass wir mit Gott gerungen hätten“, sagt der Theologe. Er habe auch nie daran gezweifelt, dass es dereinst ein Wiedersehen mit Jonathan geben wird. „Ich weiß gar nicht, wie wir seinen Tod ohne diesen festen Glauben hätten ertragen können“, sagt er. Für ihn ist seine Familie immer noch fünfköpfig: „Drei Kinder, eines davon ein Himmelskind.“ Manchmal sei er diesem Kind sogar besonders nah: „Dann habe ich das Gefühl, ich sei mit einem Bein schon woanders.“ Nach einem Verlust merke man noch stärker, dass man „Gast auf Erden“ ist. Was sich eher geändert habe, sei die Innerlichkeit seines Glaubens: „Ich frage mich: Welche Beziehung habe ich zu Gott? Und nicht: Welche Beziehung habe ich zu normativen Texten?“
Die Frage nach dem Sinn des Leids
Und dann erzählt Sedmak noch von den vielen Briefen, die die Familie nach Jonathans Tod bekommen hat. Ein „kostbarer Schatz“ seien sie, sagt er. Auch wenn manche Formulierung für ihn schwierig war. Zum Beispiel die mit dem Bezug auf den Satz aus der Emmaus-Geschichte, dort, als Jesus noch unerkannt den wandernden Jüngern alles erklärt und fragt: „Musste dies nicht alles geschehen …?“ Und? Musste es geschehen? Nein, sagt Sedmak, er glaube nicht an diese Form von Vorherbestimmung: „Aber ich glaube, dass nichts, was wir erleben, umsonst ist.“ Und so kann eben auch aus Jonathans Tod, dieser unheilbaren Wunde, für seine Familie und für weitere Menschen Heilvolles wachsen.
Von Susanne Haverkamp