Hamburg
Der Zuhör-Kiosk: Wie Gespräche das Leben verändern können
Im Hamburger U-Bahnhof Emilienstraße bietet der Zuhör-Kiosk ein einzigartiges Angebot: Menschen finden hier Gehör und können frei über ihre Sorgen und Gedanken sprechen. Ein Projekt, das Leben verändern kann.
Klaus-Dieter Gremm ist es gewohnt, dass ihm die Menschen aus dem Weg gehen. Er ist fast blind, tastet sich mit einem Langstock durch die Stadt und trägt das Blindenzeichen mit den drei schwarzen Punkten auf der gelben Mütze. Doch das ist aus seiner Sicht nicht der einzige Grund, weshalb er sich manchmal allein fühlt. Er leide unter einem Drang zu sprechen, sagt er: „Ich habe immer Druck und mir hört niemand zu, weil ich eben ein sozial sehr unangepasster Mensch bin.“ Gremm kommt zum Treffen am Zuhör-Kiosk im Hamburger U-Bahnhof Emilienstraße. Das war früher ein gewöhnlicher Kiosk. Jetzt hängt an der einen Seite ein Plakat mit einem riesigen Ohr. Darauf steht: „Ich höre Ihnen zu.“ Viele, die aus der U-Bahn aussteigen, werfen einen Blick auf den Kiosk. Eine Frau Mitte 60 schaut durch das Fenster. Sie sagt, sie finde es „wichtig, dass die Leute hier mal ihr Leid rauslassen können“.
Wie der Kiosk Leben verändert
Gremm war einer der Ersten, der hier eintrat. Der 72-jährige Rentner war früher Schreibkraft. Er kommt gelegentlich vorbei und sagt, dass es „lebensverändernd war, diesem Kiosk und seiner Besatzung zu begegnen“. Der Zuhör-Kiosk ist wochentags von 12 bis 18 Uhr geöffnet. Hier kann man sich setzen, Kaffee oder Tee bekommen und etwas erzählen. Etwa vierzig Ehrenamtliche arbeiten hier in Schichten von jeweils drei Stunden und hören den Menschen zu. Kostenlos und vertraulich. Gremm hat sich bereiterklärt, etwas von dem zu erzählen, was er mit dem Kiosk erlebt hat. „Der Bahnsteig ist für mich eine soziale Wüste“, sagt er. „Ich habe zwar viele Menschen um mich, aber niemanden, der mich anspricht oder den ich anspreche.“ Als Musikfreak erzählt er von den Schallplatten, den Jazzmusikern und Pianisten, die ihn seit seiner Jugend beeindruckt haben. Er ist Spezialist für Zwischentöne, hört im Konzert Instrumente, die sonst kaum jemandem auffallen. Und ist manchmal enttäuscht, wie sehr sich andere ablenken lassen und nicht wahrnehmen, was er wahrnimmt und was ihn im Innersten bewegt.
Gremm sitzt heute Christoph Busch gegenüber. Der 78-Jährige hat den Kiosk im Januar 2018 eröffnet. Wer Gremm zuhört, kann müde werden von der Kulturbegeisterung, von den vielen Namen aus der Musik- und Filmgeschichte, mit denen er wichtige Sätze, ja Botschaften verbindet. Doch Busch wird nicht müde. Er antwortet, hinterfragt, lässt nicht gelten, wenn sein Gast über die Blindheit der Sehenden schimpft. Und genau das scheint es zu sein, was Gremm sucht: jemanden, der ihm nicht helfen will, sondern einfach mit ihm spricht. Er nennt Busch „unvoreingenommen“ und sieht ihn als jemanden, der „nicht über die kleinste Unangepasstheit stolpert“. Das sei für ihn befreiend gewesen. Es habe ihm geholfen, seinen Entzug vom Alkohol wieder aufzunehmen. „Das wäre ohne dieses Gesprächsangebot sicher nicht passiert. Man versteinert ja durch die Sprachlosigkeit“, sagt er und zitiert den Popsong von Simon & Garfunkel: Einsamkeit, das ist für ihn „der Sound of Silence“.
Von der Schreibstube zum sozialen Treffpunkt
Busch sieht sich nicht als Berater oder Seelsorger. Er ist Schriftsteller. Als er den leerstehenden Kiosk entdeckte, mietete er ihn und richtete sich darin eine Schreibstube ein, wie er sie damals nannte. Er wollte hören, was die Leute beschäftigt, um Geschichten zu schreiben. Er klebte ein großes, selbstgemaltes Ohr an die Scheibe – und die Leute kamen. Er saß stundenlang, hörte, schrieb, doch aus dem geplanten Buch wurde nichts. Dem Verlag waren die Erzählungen zu düster. Denn „da waren überhaupt keine glücklichen Geschichten dabei, sondern eher sehr tragische“, sagt Busch. Ihm war das damals aber gar nicht so vorgekommen, „weil es gut war, hier zu sein und zu spüren, dass den Leuten das guttut“. Er würde die Geschichten heute anders schreiben, „mit einer ganz anderen Bewunderung“, wie er sagt, als „Mutgeschichten“. Denn „es sind Leute darunter, bei denen man sich wundert, dass sie noch leben und dass sie das geschafft haben“. Doch er wollte dann nichts mehr schreiben. „Ich hatte keine Lust mehr, das Erlebte für Geschichten zu verwerten“, sagt Busch. Er war zu sehr mit den Leuten und den Überraschungen beschäftigt. „Ich weiß ja nicht, was passiert, wenn der Nächste reinkommt.“ Er hörte nur noch zu.
Ehrenamtliche im Einsatz: Zuhören als Kraftquelle
Und bald meldeten sich die ersten Ehrenamtlichen bei ihm, die auch zuhören wollten. Jetzt bilden sie das Team vom Zuhör-Kiosk „Das Ohr“. Einer von ihnen ist Edgar Lüken (61). „Einfach nur ein Gegenüber zu haben, das verändert etwas“, sagt er. „Es hilft schon, nur da zu sein.“ Wenn jemand seine wirren, zerstreuten Gedanken in Worte fasst, beginne er schon, sie zu ordnen, erklärt Lüken. Als er vor Jahren selbst mit Depressionen kämpfte, hat er erlebt, wie schlimm es sein kann, kein Gegenüber zu haben. Ein Wort von irgendjemandem hätte ihm manches Mal geholfen, aus den ewig kreisenden Gedanken herauszukommen. Auch deshalb engagiert er sich beim Zuhör-Kiosk. Am Ende vieler Gespräche denkt er: „Ja, das war sinnvoll. Dieser Mensch kann den Rest des Tages jetzt vielleicht positiver angehen.“ Für ihn selbst seien die drei Stunden einer Schicht im Kiosk „belebend“, sagt er: „Man weiß nie, was passiert. Ich kann mich nicht darauf vorbereiten.“ Hier erlebt er, „wie viele unterschiedliche Menschen es gibt“, zu denen er sonst keinen Kontakt hätte. Das ist für ihn herausfordernd, aber auch „ein persönlicher Gewinn“.
Zuhören als Schlüssel zur Veränderung
Dass Lüken evangelisch-methodistischer Pastor ist, spielt für sein Ehrenamt keine Rolle. „Ich bin hier als Mensch“, sagt er. Bibelwissen ist im Zuhör-Kiosk nicht gefragt. Lüken möchte Worte finden, die alle verstehen, nicht nur Christen. Wer den Kiosk wieder verlässt, soll sagen: „Das war jetzt gut, das hat mich weitergebracht oder es hat einen neuen Gedanken entzündet.“ Pro Schicht ergeben sich ein, vielleicht zwei Gespräche im Kiosk. Denn die meisten Begegnungen finden am Fenster statt, berichtet Lüken. Meist hat er es geöffnet und schaut hinaus zum Bahnsteig. Manchen sieht er an, was sie bewegt. „Ihnen geht es aber gut heute, oder?“, hat er vor einiger Zeit zu einer älteren Dame gesagt, die irgendwie fröhlich aussah. Sie blieb stehen und erzählte ihm, warum sie so gut drauf war. Einige lassen dann drei, vier U-Bahnen fahren, erzählt Lüken. Manche schleichen lange um den Kiosk herum und trauen sich nicht. Dann macht Lüken den ersten Schritt und spricht sie an „mit einem fröhlichen Moin“. Manche Gespräche sind sehr kurz, wie vor einigen Wochen mit einem trist dreinblickenden Mann. Lüken sah ihn an und sagte: „Scheiß Tag heute.“ Der Mann guckte zurück, antwortete „Scheiß Tag“ und ging weiter. Lüken sagt: „Vielleicht war ich an diesem Tag der Einzige, mit dem er ein Wort gewechselt hat.“