Kolumne
Schockierende Freundlichkeit im Feierabendverkehr
In der U-Bahn nach Büroschluss erwartet man keine nette Begrüßung. Alois Bierl hat das aber neulich erlebt und war so wie die anderen Fahrgäste beinahe schockiert. Ihn beschäftigt, warum er den Missmut und die Ruppigkeit im Alltag für normal hält.
Großstadtbewohner und Pendler kennen das. Die volle U-Bahn nach Büroschluss, in die schnell noch jemand hineinspringt, wenn sich die Türen schließen. Da steigt besonders der Puls des Fahrers, weil das wieder eine kleine Verspätung bedeutet. Dann schallt durch die Lautsprecher öfter einmal eine bissige Bemerkung vom Führerstand in die Waggons. Nein, die Linie U1 in München ist werktags um 18.30 Uhr kein Ort für Freundlichkeiten.
Aber neulich hat es mich und die Fahrgäste gerissen, das hatten wir noch nicht erlebt! Ein Mann springt noch durch die schon halb geschlossene Tür und die U-Bahn rollt los. Und dann diese unerhörte, fast schockierende Durchsage: „Hallo, liebe Fahrgäste. Ich fahre Sie sehr gerne. Sie haben wahrscheinlich einen anstrengenden Tag hinter sich. Ich wünsche Ihnen jetzt einen guten Feierabend und dass Sie heute noch etwas Schönes erleben.“
Missmut und Unhöflichkeit sind normal
Im Waggon sehen wir einander verblüfft an. Nein, da war kein ironischer oder gar hämischer Zungenschlag dabei, das wirkte aufrichtig und ehrlich. Einige grinsen, andere schütteln den Kopf oder zucken die Schultern in der dichtgedrängten Menge. Ich frage mich, warum uns Freundlichkeit so verlegen macht. Gut hat sie uns Passagieren schon getan. Diese wenigen Sätze haben dazu geführt, dass wir nicht nur abgespannt, sondern auch entspannt in der U-Bahn stehen oder sitzen, zumindest ein bisschen.
Dennoch wirken wir alle ratlos: Was ist da dem U-Bahn-Fahrer bloß durch den Kopf gegangen? War es nicht sogar übergriffig zu sagen, dass er uns gerne durch den feierabendlichen Missmut bringt und Verständnis für den anstrengenden Tag hat? Warum fährt er nicht einfach seine Linie ab, sondern will auch noch nett sein? Das ist doch verdächtig, vielleicht hat der Mann sogar Probleme. Das denke ich mir und gleichzeitig finde ich es bedenklich, dass ich Ruppigkeit und Unhöflichkeit für wesentlich normaler halte als Freundlichkeit. Vielleicht, weil ich ein aufgeklärter Zeitgenosse im Spätkapitalismus bin. Schließlich weiß ich Bescheid über Verkaufspsychologie und so.
„Eine gute Botschaft labt das Gebein“
Das lese ich eigens im Internet nach, gleich, als ich von der U-Bahn-Station daheim angekommen bin. Freundlichkeit bildet „einen zentralen Erfolgsfaktor zur Erzielung ökonomischer Austauschprozesse“ steht da. Sie dient offenbar vor allem dazu, um mich über den Tisch zu ziehen. Und der U-Bahn-Fahrer wollte mich und die anderen Passagiere vielleicht nur ruhigstellen, damit ihn keiner nach dem Aussteigen anschnauzt, warum sein Zug eine Minute verspätet ist. Das hat er ziemlich sicher schon erlebt.
Es fällt mir schwer zuzugeben, dass es auch eine absichtslose Freundlichkeit geben kann, die mich entwaffnet. Dass jemand, der mir nicht persönlich nahesteht, einfach etwas Gutes für mich will, ohne selbst einen Vorteil daraus zu ziehen. In Buch der Sprichwörter heißt es in der alten Lutherübersetzung so schön: „eine gute Botschaft labt das Gebein“.
Demokratie unter Druck Es sind unruhige Zeiten: Autokraten diktieren das Weltgeschehen, in Deutschland sind Parteien des politischen Randes auf dem Vormarsch. Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann erkärt, welche Kulturkrise unsere Gesellschaft gerade erlebt und welchen Platz der christliche Glaube in dieser Gemengelage hat. Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.[inne]halten - das Magazin 7/2025
Innehalten Cover 7-2025
Das muffige Griesgram-Kämmerchen
Ein freundliches Wort trifft den Menschen in seiner Mitte und es macht ihn freier. „Freundlich“, das kommt aus dem Mittelhochdeutschen „vriuntlich“ und bedeutet „herzlich-wohlwollendes Verhalten“, belehrt mich das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. Und dass es die Wortwurzel von „frei“ enthält. Freundlichkeit öffnet eine Tür aus dem engen Kämmerchen der Griesgrämigkeit und des Misstrauens, befreit von einer Last, die das Leben beschwert. Und ich wünsche mir, wieder einmal mit diesem U-Bahnfahrer unterwegs zu sein, der mir am Ende meines Arbeitstages eine gute Botschaft sagt, die das Gebein labt.