Essay zum Tag der Freundschaft
Gerhards Vermächtnis: Freundschaft statt Familie im Alter
Ein alter Mann lebt bis zu seinem Tod allein. Einsam war er dennoch nicht, weil er Talent zur Freundschaft hatte. Seine Lebensweise könnte ein Zukunftstrend in Deutschland sein, wo Einzelhaushalte immer häufiger werden, meint unser Essayist Alois Bierl.

Gerhard war eine Ausnahme. Er starb mit fast 94 Jahren in den Armen einer Nachbarin, daheim zwischen seinen Möbeln aus den 1950er Jahren und den Büchern, die er gesammelt hatte. Gleichzeitig gehörte Gerhard zu einer ständigen wachsenden Bevölkerungsgruppe und war alles andere als eine Ausnahme: er lebte als Einzelperson. Bei seinem Tod 2001 zählten die Statistiker in der deutschen Bevölkerung rund 36 Prozent Einzelhaushalte. 2023 waren es bereits 41 Prozent. Als Gerhard 1951 in sein neugebautes Frankfurter Zuhause zog, waren sie noch deutlich in der Minderheit: nicht einmal ein Fünftel der Menschen wohnte damals allein. Auch Gerhard lebte jahrzehntelang mit seiner Ehefrau zusammen und schlug sich nach ihrem Tod als Witwer tapfer durch den Alltag.
Schrumpfende Verwandtschaft: Eine globale Herausforderung
In einem anderen lebensprägenden Punkt war er für seine Generation, Jahrgang 1907, wiederum sehr außergewöhnlich: Er war ein Einzelkind und hatte selbst keine Nachkommen. An seinem Lebensende gab es keinen leiblichen Verwandten, nicht einen einzigen. Ohne es zu ahnen, nahm Gerhard damit einen Zukunftstrend radikal vorweg. Weltweit leben Menschen mit immer weniger Geschwistern, Tanten und Onkeln, Vettern und Cousinen. Laut einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) schrumpfen die Verwandtschaftsnetzwerke rapide. Im weltweiten Schnitt hatte vor rund 70 Jahren eine Frau im Rentenalter rund 56 lebende Verwandte. In den kommenden 70 Jahren, also etwa 2095, werden es nur noch gut 18 sein.
Die Weltbevölkerung schrumpft und altert, zumindest mittelfristig. Es wird also rein zahlenmäßig immer weniger Familienangehörige geben, die sich verpflichtet fühlen, einer Tante, einem Opa oder den eigenen Eltern im Alter beizustehen. Ganz abgesehen davon, dass auch enge Verwandte immer häufiger weit entfernt, voneinander wohnen. Blut ist dicker als Wasser, sagt das Sprichwort. Aber das Blut wird weniger und auch dünner.
Gerhards außergewöhnliches Netzwerk
Gerhard schaffte es jedoch, auch mit Wasser zurechtzukommen. Denn er hatte eine Reihe wichtiger Begabungen: er konnte gut erzählen, so dass ihm fast jeder gerne zuhörte, er konnte gut streiten und durch beides jüngere Menschen als Freunde gewinnen. Ich selbst habe ihn in einer Münchner Buchhandlung kennengelernt, als 19-jähriger, ihn in mein Büdchen zu einem Tee mit Wurstbrot eingeladen und Gerhard nahm das zu meiner Überraschung freudig an. Damals war er 75 und forderte mich auf, ihn einmal in Frankfurt zu besuchen, was ich bis kurz vor seinem Tod dann regelmäßig getan habe. Gelegentlich brachte ich ihn zu einer Reha-Maßnahme oder hielt seine Wohnung bei längeren Krankenhausaufenthalten in Schuss und besuchte ihn in der Klinik. Trotz der 400 Kilometer, die zwischen Frankfurt und München liegen, konnte ich mir das zeitlich als Student gut einrichten. Selbst später, als ich bereits eine Familie hatte, ließen sich solche mehrtägigen Besuche zwei- bis dreimal im Jahr einrichten, sogar noch vier Wochen vor seinem Tod, als er Unterstützung nötig hatte, weil die Nachbarin verreist war.
An ihr zeigte sich, dass Gerhard auch das Talent besaß, schon lange bestehende Bekanntschaften schnell zu intensivieren. Die Nachbarin, die ihn in seinem letzten Lebensjahr begleitete, Pflegedienste leistete und dafür sorgte, dass er nach seinem Wunsch daheim sterben konnte, kannte er schon lange zuvor. Sie ist ihm aber erst im letzten Lebensabschnitt zur besten Freundin geworden und kümmerte sich sogar um seine Beerdigung. Gerhard hatte den beneidenswerten Instinkt, stets Menschen zu finden, mit denen er und die mit ihm vertraut sein wollten.
Aristoteles und die Formen der Freundschaft
Der griechische Philosoph Aristoteles unterscheidet und bewertet in seiner Nikomachischen Ethik drei Formen der Freundschaft. Auf der untersten Stufe steht die Freundschaft mit einseitigem oder sogar beidseitigem Nutzen, eine Zweckgemeinschaft, angereichert durch einen Schuss Herzlichkeit. Dann folgt die Verbindung, um miteinander vergnügter zu sein: ein Plauderabend bei einem Glas Wein ist alleine schwer zu haben, ein Fußballspiel oder eine Theatervorführung zu zweit zu besuchen, finden die meisten Menschen unterhaltsamer, als dort unbegleitet herumzuhängen. Fallen einem solche Freunde jedoch beschwerlich, weil sie in wirtschaftliche Nöte geraten oder einfach hinfällig werden, werden die Begegnungen immer seltener und hören ganz auf. Schließlich kennt Aristoteles die innige, wahre Freundschaft, die einander Treue und uneigennützige Hilfe verspricht.
Bei Gerhard trafen meistens alle drei Ebenen zusammen und gingen ineinander über. Er verschenkte alte Bücher, die kaum noch zu bekommen waren, tröstete bei Liebeskummer, lud großzügig ins Theater oder zum Essen ein. Die „Gegenleistung“ bestand darin, Einkäufe zu erledigen, ihn ins Museum fahren, seine Reisekoffer zu packen und im Haushalt gelegentlich einen halben Tag anzupacken. Er brauchte das nicht zu fordern, noch war er beleidigt, wenn der Freund oder die Freundin dafür gerade keine Zeit hatte. Irgendwie fand sich in seinem Kreis immer jemand, der sich darum kümmerte. Aber Gerhard war eben ein Ausnahmemensch.
Warum Freunde immer wichtiger werden
Ob Pflichten, die früher Verwandten zufielen, Freunde übernehmen, muss allerdings kein gesellschaftlicher Zukunftstrend sein. Besonders wenn sie im letzten Lebensabschnitt aus derselben Generation kommen und ebenso gebrechlich sind wie man selbst, und nicht, wie bei Gerhard, jünger und körperlich fit. Kann es außerdem nicht sogar sein, dass eine Freundschaft gar nicht für äußerste Nähe gedacht ist, zumindest nicht auf Dauer? Also jemanden monatelang, vielleicht sogar jahrelang regelmäßig beim Toilettengang, beim Duschen oder bei der Tabletteneinnahme zu begleiten, Nachtwachen zu halten und sich stundenlang wiederkehrende Klagen oder Dankesbezeugungen anzuhören, also da einzustehen, wo Pflegedienste professionelle Grenzen ziehen oder schlicht deren Leistungsumfang überschritten ist. Wem lässt sich das außer den engsten Angehörigen zumuten? Braucht es dafür nicht doch eine innige Vertrautheit, eine Verbindung, die aus mehr besteht als Sympathie?
Verwandte oder Freunde – Erfahrungen aus der Bibel
Dem Ijob aus dem gleichnamigen Buch der Bibel ist es nicht zuwider, wenn er, seiner ganzen Familie beraubt und mit seinem „bösartigem Geschwür von der Fußsohle bis zum Scheitel“ geplagt, Besuch von seinen Freunden Elifas, Bildad und Zofar erhält, der aber mit einer Entfremdung endet. Trösten wollen sie den geschlagenen Mann, sind so bekümmert, dass sie ihre Gewänder zerreißen und Asche auf ihr Haupt streuen. Sieben Tage halten sie es aus, mit ihm zu schweigen und Ijobs Schmerz zu teilen. Als Ijob dann zu klagen beginnt, ertragen sie das allerdings nicht mehr. Die drei treuen Besucher tun das, was Freunde gern tun: sie suchen nach Erklärungen für das grausame Schicksal und geben Ratschläge. Und bekanntlich sind auch Ratschläge Schläge. Dabei scheinen sie vor allem ihre eigene Angst und Unsicherheit wegerklären zu wollen – auf Ijobs Kosten. Immerhin überlassen sie ihn in seiner Not nicht ganz sich selbst.
Jesus hatte da größeres Pech mit seinem vollmundigen Freund Petrus, der ihn doch lieber verleugnet, als mit ihm die Todesnot und das Ende zu teilen. Unterm Kreuz sind denn auch nicht die Freunde, sondern die Mutter und Verwandte von Jesus, zu denen auch der Jünger Johannes zählt, der vermutlich ein Cousin ersten Grades war. Zu Beginn der Evangelien raunzt Jesus seine Familienangehörigen immer wieder höchst unfreundlich an, grenzt sich scharf von ihnen ab: „Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“, heißt es etwa schon zu Beginn des Markus-Evangeliums im dritten Kapitel.
Aber Blut ist dicker als Wasser. Fast ausschließlich Verwandte bleiben zuletzt bei ihm, seine Jüngerinnen und Jünger machen sich aus dem Staub, mit einer Ausnahme, Maria Magdalena.
Dabei ist Jesus ein Freund, wie ihn sich jeder nur wünschen kann: zugewandt, ehrlich, benennt Schwächen seines Gegenübers, ohne die Beziehung deswegen aufzukündigen. Er schafft es, ungezwungen Freundschaften mit Frauen zu pflegen und diese Nähe nicht sexuell aufzuladen, wie das Männer oft reflexhaft tun. Für Maria Magdalena, der ehemaligen Prostituierten, muss das eine überwältigende Erfahrung gewesen sein. Jesus hält sogar den Leichengestank seines Freundes Lazarus aus und holt ihn zurück ins Leben. Aber Christus ist eben der göttliche Mensch. Er zeigt die Möglichkeiten auf, die in den Menschen liegen, nur eben nicht so gebündelt und vollendet wie bei ihm, sondern verstreut und unvollkommen. Aber es lässt sich hervorlocken. Nicht alles bei einem Menschen, aber einiges bei vielen.
Modell für das Altern in einer sich wandelnden Gesellschaft
Gerhard hatte ein Gespür dafür, was er jedem seiner Freunde und Freundinnen geben und von ihnen entgegennehmen konnte - bis zum letzten Atemzug. Er verstand es, sich einen Kreis zu schaffen, in dem er geliebt und aufgehoben war. Das war für alle erfüllend und gleichzeitig anstrengend. Gerhards Talent war und ist wahrscheinlich immer noch eine Ausnahme. Es wird dennoch zunehmend wichtiger und will geübt sein, mit immer weniger Blutsverwandten durchs Leben gehen. Es wird in Zukunft wahrscheinlich Roboter brauchen, die Pflegeaufgaben übernehmen, weil das menschliche Personal knapp ist, das zudem wenig Zeit für ein tiefergehendes Gespräch hat. An solchen Maschinen muss nichts Schlimmes sein, doch Hautkontakt, gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen aus der Vergangenheit können sie nicht mit einem Menschen teilen. Roboter können vielleicht sogar nett sein, aber eben keine Freunde werden, in deren Armen sich sterben lässt, wenn die Verwandten fehlen. Es wird also eine notwendige gesellschaftliche Aufgabe sein, Freundschaft neu zu lernen und auszuloten. Dann kann Gerhard von der Ausnahme zur Regel werden.