Kultur und Wissen
09.01.2025

Neurowissenschaft

Wie Glaube im Gehirn entsteht

Lässt sich Gott mit der Neurotheologie beweisen? Zahlreiche wissenschaftliche Experimente und Studien haben den Versuch unternommen, zu messen und abzubilden, was bei einer religiösen Erfahrung im Gehirn passiert. Ja mehr noch: Manche gingen sogar so weit, zu behaupten, derartige religiöse Erlebnisse selbst auslösen zu können. Was steckt dahinter?

Manche neurowissenschaftlichen Experimente versuchen religiöse Erfahrungen in bestimmten Hirnarealen zu verorten. Manche neurowissenschaftlichen Experimente versuchen religiöse Erfahrungen in bestimmten Hirnarealen zu verorten. Foto: © imago images/Panthermedia

In der University of Pennsylvania in Philadelphia begaben sich vor ein paar Jahren seltsame Dinge. Ein junger Radiologe namens Andrew Newberg holte tibetische Buddhistenmönche und amerikanische Franziskanernonnen in sein abgedunkeltes Labor, lud sie zur Meditation ein. Nach etwa einer Stunde, auf dem Gipfelpunkt der Selbstversenkung, spritzte er seinen Probanden vorsichtig eine radioaktive Substanz in die Armvene. Die Flüssigkeit dient als Kontrastmittel, um Vorgänge im Körper sichtbar zu machen. Danach hielt Newberg die Gehirnfunktionen seiner Versuchspersonen mit einer SPECT-Kamera fest. Das Gerät liefert präzise Momentaufnahmen der Hirndurchblutung auf dem Höhepunkt der Versenkung. SPECT, Single-Photon Emission Compted Tomography, der letzte Schrei der Wissenschaft.

Was die injizierte radioaktive Flüssigkeit sichtbar machte, was die SPECT-Kamera erfasste und was Internet-Nutzer später auf dem Computerbildschirm beobachten konnten, war in allen Fällen dasselbe: laut Newberg „eine ungewöhnliche Aktivität in einem kleinen Klumpen grauer Materie im oberen hinteren Abschnitt des Gehirns“.


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Gefühl des Einsseins mit dem Unendlichen

Den oberen Scheitellappen nennen Fachleute diese Zone, zuständig vor allem für die räumliche Orientierung. Hier stellten die Forscher eine verstärkte Durchblutung während der spirituellen Tiefenerfahrungen fest: eine neuronal erzeugte Reizblockade. Die Versuchspersonen erlebten diesen Vorgang als Aufhebung der Trennung von Selbst und Welt, als Gefühl, eins zu sein mit dem Unendlichen. Während die Buddhisten das Verschmelzen mit dem großen kosmischen Ganzen erfuhren, formulierten die Ordensschwestern ihre Gebetserfahrung etwas anders: intensive Verbundenheit mit Gott, Einswerden mit Christus.

Heißt das, dass sich religiöse Erfahrung messen lässt, dass sich das Gespräch zwischen Mensch und Gott beobachten und fotografieren lässt? Dass Mystiker keinen Unsinn reden, dass sie vielmehr echte, neurobiologische Vorgänge schildern? Newberg: „Mystische Erfahrung ist biologisch real und naturwissenschaftlich wahrnehmbar.“ Also eine greifbare, nachweisbare religiöse Antenne im Menschen. Haben die guten alten spekulativen Gottesbeweise endgültig ausgedient, weil es jetzt den ultimativen Gottesbeweis gibt, den naturwissenschaftlichen? Sind die Menschen wirklich „von Natur aus Mystiker“ (Newberg), Wesen mit der angeborenen Gabe, sich als Teil einer größeren Wirklichkeit zu fühlen?

Mehr als nur chemische Prozesse

So neu ist das ja alles nicht. Die Hirnforschung hat längst herausgefunden, dass unser Gehirn mehr ist als nur der passive Resonanzboden für all die ständig aufgenommenen Reize und Mechanismen; dass es im Gehirn Kräfte gibt, die diese Wirklichkeitswahrnehmung filtern und gestalten. Der australische Neurophysiologe und Nobelpreisträger Sir John Carew Eccles, gestorben 1997, vertrat hartnäckig die Auffassung, der Menschengeist sei mehr als ein Ablauf chemischer Prozesse im Gehirn, mehr als die Verarbeitung elektrischer Signale.

Andrew Newberg blieb nicht der einzige Forscher, der dem „Gottesmodul“ im Menschen auf die Spur zu kommen suchte. Richard J. Davidson verglich in der Universität von Wisconsin-Madison buddhistische Meditationsprofis und eine Gruppe von Studenten, die gerade mal eine Woche Meditationstraining absolviert hatten. Das Ergebnis: Die Aufnahmen des Elektroenzephaloprogramms (EEG) zeigten bei den Mönchen einen gigantischen Anstieg der Aktivität der sogenannten Gamma-Wellen in jenen Hirnregionen, die für positive Emotionen wie Glück, Mitgefühl, Liebe zuständig sind.

Der Versuch mit dem umgebauten Motorradhelm

Das meiste Aufsehen erregte wohl Professor Michael Persinger von der Laurentian University im kanadischen Sudbury mit einem umgebauten Motorradhelm, der im Gehirn seiner Versuchspersonen ein Magnetfeld erzeugte und spirituelle Schwingungen hervorrief. Fast 80 Prozent der Probanden gaben an, religiöse Erlebnisse gehabt zu haben. In der schalldichten Kammer hätten sie plötzlich etwas neben sich gespürt, einen Engel, die Gegenwart Gottes – manche sagten auch, es sei etwas Teuflisches gewesen.

„Gott lebt irgendwo zwischen dem Scheitel- und Schläfenlappen“, soll Persinger forsch verkündet haben, „verbunden mit den Aliens, den Engeln und unseren verstorbenen Angehörigen.“ Jetzt wurde sogar der britische Biologe Richard Dawkins neugierig, der seit seinem Buch „Der Gotteswahn“ als Wortführer der militanten Atheisten gilt. Dawkins reiste nach Kanada, setzte sich den Helm auf und spürte – nichts.

Gott und das Unbewusste

Doch der Horizont, auf den sich Transzendenzleugner wie Dawkins beschränken, ist längst durchbrochen. Schon vor hundert Jahren räumte der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung mit der selbstsicheren Vorstellung auf, der Mensch sei ein von der nüchternen Vernunft geleitetes, Wünsche und Ziele souverän kontrollierendes Individuum. Nichts da, es sind die archetypischen Kräfte, die kollektiven Menschheitserfahrungen, die verdrängten Bedürfnisse und Erlebnisse, die den Menschen bestimmen. „Das Unbewusste“, wie es Jung nennt.

Die naturwissenschaftliche Engführung auf berechenbare, messbare Realitäten ist immer wieder aufgelöst worden – interessanterweise von den Naturforschern selbst, von unkonventionell denkenden Querköpfen wie Albert Einstein: „Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können, ist die Wahrnehmung des Mystischen. Sie ist die Quelle aller wahren Wissenschaft.“

Erlebnis einer „absoluten Realität“

Und nun weist der Neurologe Vilayanur Ramachandran von der kalifornischen Universität San Diego nach, dass Patienten mit Schläfenlappen-Epilepsien, anders als Gesunde, auf religiöse Bildinhalte stärker reagieren als auf gewalttätige oder sexuell stimulierende Darstellungen. Der Neurobiologe James Austin wiederum, der an der University of Missouri lehrt, hat bei einem mühsamen Selbsterfahrungstrip durch japanische Zen-Klöster endlich das Erlebnis einer „absoluten Realität“ und „inneren Richtigkeit“ gehabt.

Diese Erleuchtungserfahrung führt er darauf zurück, dass er durch intensive Meditation die Aktivität bestimmter Hirnbereiche hemmen konnte. Vereinfacht gesagt, ihm gelang ein Aufbrechen des egozentrierten Selbstbildes, der „Ich-mich-mein-Perspektive“, wie er es nennt. Stattdessen berichtet Austin von einer Transzendenzerfahrung, die in den verschiedenen Kulturen und Religionen unterschiedliche Namen hat: Tao, Nirwana, Brahmanatman, Unio mystica. Reines Bewusstheit, das Bewusstsein von nichts und zugleich von allem als einem umfassenden Ganzen.

Neurotheologie nur als Bildgebung

Newberg, Peringer, Austin – sie alle sind sich einig, dass man geistige, spirituelle Erfahrungen spüren, beobachten, wissenschaftlich vermessen kann. Dass die Antwort auf die Frage nach Gott in unserem Gehirn zu finden ist. Der Innsbrucker Jesuit Hans Goller, der sich als Professor für Christliche Philosophie mit dem Zusammenwirken von Körper und Geist und mit der Psychologie der Emotionen beschäftigt hat, ist da eher vorsichtig: „Was kann die Neurotheologie machen?“ fragt er.

„Sie kann nicht mehr machen als die Hirnforschung ganz allgemein, und zwar einfach schauen: Was passiert im Gehirn? Gibt es bestimmte, besondere Aktivitätsmuster, die mit religiösem Erleben einhergehen? Also Untersuchungen an Menschen, die ein besonderes religiöses Erlebnis hatten, sei es jetzt der Höhepunkt eines besonderen meditativen Zustandes oder sei es die Erinnerung an ein bestimmtes mystisches Erlebnis. Und dann hat man mit Hilfe bildgebender Verfahren versucht herauszubekommen, ob dem im Gehirn ein bestimmtes Aktivitätsmuster entspricht.“

Beobachtbar sind nur die Vorgänge im Menschen

Das heißt, die Theologen wiegeln ab: Neurobiologische Experimente bringen allenfalls Aufschlüsse über Vorgänge im Menschen, nicht über die Kommunikationsmethoden Gottes oder gar über seine Existenz. Beobachtet werden kann nur, wie ein mehr oder weniger gläubiger Mensch auf religiöse Erlebnisse reagiert – die er selbst in Szene setzt. Kritiker haben Forschern wie Newberg und Persinger vorgehalten, dass in ihren Versuchen weniger die Magnetstimulation wirkt, sondern der Wunsch, zu glauben, die Kraft der religiösen Überzeugung.

Beruht Religion bloß auf Einbildung? Die Experimente der Neurobiologen bestätigen zwar eindrucksvoll, welche Riesenkräfte der Glaube zu entfalten vermag. Dennoch: Ist Gott am Ende nur eine Projektion? Ein vom Gehirn erzeugtes, raffiniertes Instrument, um die Angst vor dem Tod zu überwinden und Sinn in ein offensichtlich absurdes Leben zu bringen? Oder legen all die aufregenden Versuche einen ganz anderen Schluss nahe? Dass in unserem Hirn eben doch eine Antenne für das Transzendente, für Gott eingebaut ist? Dass wir Kontakt mit dem Übernatürlichen aufnehmen können? Dass es neben der Welt, wie wir sie kennen, auch noch eine andere Wirklichkeit gibt?

Menschheitsfrage nach Gott

Vielleicht lässt sich die Menschheitsfrage nach Gott ganz einfach nicht mit ein paar neurobiologischen Experimenten beantworten. Zumal sich Erleuchtungserlebnisse den Normen der Logik meist entziehen. Und keineswegs nicht jeder religiöse Mensch mystische Erfahrungen macht; es gibt knochentrockene Zeitgenossen, die felsenfest glauben und leben wie die Heiligen. Ganz abgesehen von den inhaltlichen Unterschieden: Zwischen der abstrakten Leere, zu der Buddha führen will, und der personalen Gotteserfahrung christlicher Mystik klaffen Welten.

„Tiefer hängen!“, sagt Professor Goller: „Man kann überhaupt keine Erfahrungen auf neuronale Prozesse reduzieren und auch nicht religiöse Erfahrungen. Denn diese Methoden der modernen Hirnforschung, vor allem die bildgebenden Verfahren, was messen die? Die messen einen erhöhten Energieverbrauch im Gehirn, also sie messen Blutfluss, Sauerstoffverbrauch – Hirnaktivität erfordert Sauerstoff, erfordert Energie –, und aus dem erhöhten Energieverbrauch schließt man auf intensivere Hirnaktivität unter den Tausenden oder Milliarden von Hirnzellen. Also bildlich gesprochen wär’s ungefähr so, wie wenn Sie versuchen würden, den Energieverbrauch Ihres Computers minutiös zu messen und daraus den Schluss zu ziehen, was der Computer im Moment gerade abarbeitet.“

Bunte Hirnbilder sagen nichts aus

„Mit diesen bildgebenden Verfahren“, so Goller weiter, „hat man keinen direkten Zugang zum Inhalt des Bewusstseins. Die bunten Hirnbilder sagen uns nichts darüber aus, wie es ist, sich zu freuen, sich zu ärgern, über etwas nachzudenken, und auch nichts darüber, wie es ist, ein religiöses Erlebnis zu haben oder sich in einem besonderen meditativen Zustand zu befinden. Die Neurotheologie kann nur versuchen, festzustellen, was genau im Gehirn abläuft, wenn jemand ein religiöses Erlebnis hat, religiöse Rituale ausführt oder meditiert. Also sie sagt eigentlich nichts aus über Religion oder Theologie.“

Im Übrigen haben die „Neurotheologen“ eine ziemlich oberflächliche, eher armselige Form von Religion im Blick: Man sucht die Verbindung zum Himmel, zur Transzendenz, zu einem starken, mächtigen, hilfsbereiten Gott, um Sicherheit und Schutz zu finden, ein halbwegs erträgliches Leben, die Rettung aus Notsituationen. Himmlisches Manna in der Wüste der Alltagswirklichkeit. Religion als vages Gefühl, als Schutzbedürfnis, aus Hilflosigkeit und Angst geboren.

Ganz anders zumindest der christliche Glaube, wie ihn Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer umschrieben haben: kein Gott als Lückenbüßer, kein Christus als Medizin für die Krankheiten, die die Menschen selbst kurieren sollen. Sondern der Sprung ins Risiko, das bewusste, tapfere Sicheinlassen auf einen Gott, der möglicherweise hilft, vielleicht aber auch schweigt, der sich nicht manipulieren lässt mit Vorleistungen und Gebeten.

Christian Feldmann