Kultur und Wissen
21.06.2024

Einsame Jugend driftet nach rechts

Kurze Zeit nach der Europawahl findet die bundesweite „Aktionswoche gegen Einsamkeit“ statt. Was beide Ereignisse miteinander zu tun haben? Eine ganze Menge!

Foto: © IMAGO / Bihlmayerfotografie

Kaum eine Zahl war bei der vergangenen Europawahl so spannend wie die 16. Mit rund 16 Prozent (15,9 %) holte die AfD ihr bisher bestes Ergebnis auf Bundesebene, erstmals durfte schon ab 16 gewählt werden, und bei den Jungwählern erreichte die AfD ebenfalls 16 Prozent – spannend deshalb, weil sie in keiner anderen Altersgruppe so zulegen konnte (+11 %). Ergebnisse, die der Dachverband der katholischen Jugendarbeit in Bayern mit Sorge beobachtet. Denn der BDKJ versteht sich als antifaschistische Organisation. „Die Jugendverbände sind nach dem Zweiten Weltkrieg als Bollwerke gegen Rechts gegründet worden, um diese Demokratie zu erhalten und zu schützen“, betont der BDKJ-Landesvorsitzende Florian Hörlein. „Das Erstarken rechter und rechtsextremer Kräfte, die unsere Demokratie zerstören wollen, löst da Betroffenheit aus“ .


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Pessimismus und Sympathien für rechte Ideologien

Echte Überraschung dürfen die Ergebnisse aber nicht auslösen. Denn der Erfolg der AfD zeichnete sich lange ab. Durch ihre hohe Präsenz auf Tiktok, ja – aber vor allem durch die Stimmung unter jungen Leuten. Die ist ein Nährboden für rechte Parteien und Ideen. Noch nie war eine junge Generation so pessimistisch, das stellte die Studie „Jugend in Deutschland“ bereits Anfang des Jahres fest. Die Forscher diagnostizieren eine tiefe mentale Verunsicherung in der jungen Generation. Die Hälfte leidet an psychischen Belastungen wie Stress, 11 % der Befragten befanden sich in psychischer Behandlung. Inflation, Krieg und überteuerter Wohnraum reduzieren demnach die Hoffnung auf ein gutes Leben. Zugleich verdoppelte sich die Zustimmung der AfD bei den 16- bis 29-Jährigen im Vergleich zur Untersuchung vor zwei Jahren, während die Ampel deutlich unpopulärer wurde.  

Ein düsterer, distanzierter Blick auf die Gesellschaft

Rechte und rechtsextreme Strömungen profitieren aber auch noch von einem weiteren Phänomen: Einsamkeit. Davon sind laut der vom Bundesfamilienministerium geförderten Studie „Extrem Einsam“ mehr als die Hälfte aller 16- bis 23-Jährigen in Deutschland betroffen. Nur 57 % der befragten Jugendlichen empfinden die Demokratie als beste Staatsform. Dass Einsamkeit eine der Hauptursachen ist, dass junge Menschen nach rechts driften, beobachtet auch Kai Kallbach vom Kompetenzzentrum für Demokratie und Menschenwürde. Ihm zufolge gibt es einen signifikanten Zusammenhang zu Sympathien für extrem rechte Positionen, autoritäre Einstellungen, Befürwortung von politischer Gewalt und Verschwörungstheorien. „Einsamkeit begünstig einen düsteren, distanzierten Blick auf die Gesellschaft“, so Kallbach.

Einsamkeit macht menschenfeindlich

Das entwickelt sich gerade zu einer ernsten Gefahr für die Demokratie, warnt der Politologe. Besonders betroffen sind nämlich die, die sich oftmals ohnehin schon von der Politik vergessen fühlen: Menschen mit keinem oder sehr geringem Einkommen, Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung oder Menschen, die intensive Care-Arbeit leisten müssen – so das Ergebnis des aktuellen Einsamkeitsbarometers des Bundesfamilienministeriums. Das zeigt außerdem, dass Einsamkeit der psychischen und physischen Gesundheit der Betroffenen schadet. Auch das gesellschaftliche Umfeld ist betroffen. „Einsame Menschen erkennen sich selbst als vulnerabel“, erklärt Kallbach, „und versuchen dann häufig, das eigene Selbst aufzuwerten, indem sie andere Menschen abwerten“. So ließe sich neben den autoritären Einstellungen außerdem ein klarer Zusammenhang zwischen Einsamkeit und sogenannter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nachweisen.

Krankende Gesellschaft der Einzelkämpfer

Die Publizistin Hannah Ahrendt erkannte bereits 1951, welche Rolle Einsamkeit bei der Entstehung totalitärer Regime spielt. Doch wie kann es sein, dass das Gefährdungspotenzial von Einsamkeit bis heute unterschätzt wird? Einerseits liegt es im Phänomen selbst begründet: Wer sich allein fühlt, hat keine Zuhörer und organisiert sich nicht politisch. Andererseits ist die moderne Gesellschaft geprägt von neoliberalen Leistungsgedanken. Die idealisieren das Einzelkämpfertum, die Bedeutung von Zusammenarbeit und Gruppen geht dagegen zurück. Das zeigen auch die sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen, Verbände und Gewerkschaften. Ein Wiedererstarken dieser gemeinschaftsstiftenden Einrichtungen mit starker Bindungskraft ihrer Mitglieder ist nicht in Sicht. 

Neuer gesellschaftlicher Zusammenhalt

Aktuell erreicht der BDKJ mit seiner katholischen Jugendarbeit zwar noch über 650.000 Jugendliche und junge Erwachsene in Bayern. Doch die sinkende Bedeutung von Kirchen und Verbänden sieht auch der Landesvorsitzende Hörlein. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass gerade die selbstorganisierten Jugendverbände gute Antworten auf die sukzessive Vereinsamung von jungen Menschen bieten, indem sie sie in Gruppen zusammenbringen und sie Erfahrungen der Persönlichkeitsbildung und Entwicklung machen lassen. „Wir brauchen wieder mehr Zivilgesellschaft und wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt“, so Hörlein.

Einsamkeit als Querschnittsthema in allen Politikbereichen

Einsamkeit wird die Demokratien der Welt langfristig beschäftigen: Seit 2018 gibt es in Großbritannien ein eigenes Einsamkeitsministerium, 2021 folgte Japan. Die Bundesregierung beschloss Ende letzten Jahres eine Strategie gegen Einsamkeit. Mit 111 Maßnahmen will Familienministerin Lisa Paus (Die Grünen) die Öffentlichkeit sensibilisieren und für mehr Wissen über Einsamkeit sorgen. Betroffene sollen bereichsübergreifend unterstützt werden, praktische Arbeit gestärkt und entsprechende Angebote ausgebaut werden. Die Kirchen und ihre Verbände könnten dabei eine tragende Rolle spielen. Politikexperte Kallbach warnt aber davor, einzelnen Akteuren die Verantwortung zur Lösung des Großproblems zuzuschieben. Er fordert stattdessen, Einsamkeit zum „Querschnittsthema der Gesamtgesellschaft“ zu machen und es folglich in allen Bereichen – von der Sozialpolitik über die Sport- und Wohnraumpolitik bis hin zur Verkehrspolitik – zu verankern.

Jugendbildungsmaßnahmen nicht ausreichend gefördert

Daraus resultieren müsste eine dementsprechende finanzielle Ausstattung. Einen Sieg im Kampf gegen die Einsamkeit wird es nicht umsonst geben. Aktuell geht die Tendenz aber eher dahin, gerade im sozialen Bereich zu sparen. Auch der BDKJ kämpft laut Hörlein mit massiven Finanzierungslücken, verursacht durch deutlich steigende Kosten bei nahezu gleichbleibenden Förderungen. So habe zum Beispiel die Finanzierung von Jugendbildungsmaßnahmen und zur Ausbildung ehrenamtlicher Jugendleiterinnen bereits zum zweiten Mal in Folge nicht ausgereicht. 

Kirche muss Jugendliche besser erreichen

Und nicht nur der Staat spart hier an den falschen Stellen, auch die Kirche soll bei der Finanzierung von Angeboten die Jugend stärker in den Blick nehmen. „Sie muss Angebote schaffen und ausbauen, um junge Menschen zu erreichen“, fordert Hörlein, „und das passiert halt nicht sonntags um zehn Uhr im Gottesdienst." Stattdessen brauche es mehr kategoriale Seelsorge, die Orte schafft und fördert, an denen junge Menschen spirituelle Erfahrungen und Erfahrungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens machen können. „Das ist ein zentraler Auftrag von Kirche – und dem muss sie auch finanziell gerecht werden!“

AfD für Christen nicht wählbar

Fest steht: Im Kampf gegen Einsamkeit und den daraus resultierenden Rechtstrend stehen Staat und Kirche noch am Anfang, aber die ersten Schritte sind gemacht: Die Aktionswoche gegen Einsamkeit findet bereits zum dritten Mal statt. Außerdem hat die Kirche politisch klar Position bezogen: Die AfD sei „für Christen nicht wählbar“, so das Urteil der Deutschen Bischofskonferenz. Für die kommende Bundestagswahl 2025 hat der BDKJ eine Demokratieoffensive angekündigt. Die soll junge Menschen erreichen – und zwar nicht nur die, die in katholischen Jugendverbänden organisiert sind, sondern auch die einsamen. 

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Korbinian Bauer
Artikel von Korbinian Bauer
Redakteur und Mitglied des Contentdesk
Recherchiert, schreibt und moderiert sozialpolitische und theologische Geschichten.