Kultur und Wissen
07.03.2025

10.000 Reclam-Bücher auf einen Blick

Reclam – bei diesem Wort denken viele an preisgünstige, kleinformatige Ausgaben von Weltliteratur. Im weltweit einzigen Reclam-Museum in Leipzig sind Tausende Exemplare aus der berühmten Universal-Bibliothek versammelt, darunter auch Kurioses und Rares.

 Wer kennt sie nicht, die legendären gelben Büchlein, die ganze Generationen von Schülern und Studenten prägten? Vor 1970 war Gelb allerdings noch nicht die übliche Umschlagfarbe. Wer kennt sie nicht, die legendären gelben Büchlein, die ganze Generationen von Schülern und Studenten prägten? Vor 1970 war Gelb allerdings noch nicht die übliche Umschlagfarbe. Foto: © imago/epd

Die ganze Welt der hohen Literatur ist in einem Leipziger Keller zu finden. „Ich sage lieber Souterrain, das klingt netter als Keller“, bemerkt Hans-Jochen Marquardt. Dort hat er das weltweit einzige Reclam-Museum untergebracht, das fast ausschließlich aus seiner Privatsammlung besteht: 10.000 Bände aus der berühmten Universal-Bibliothek, also jenen weißgrauen, braunen und heutzutage gelben Büchlein, an denen seit über 150 Jahren kein Klassiker und kein deutscher Literaturunterricht vorbeikommt.

Den promovierten Germanisten „begeistert dieses verlegerische Konzept, möglichst vielen Menschen unabhängig vom Geldbeutel den Zugang zu Wissen und Bildung zu ermöglichen, das ist ja das Credo des Verlags bis heute“. Und so ist er zum Sammler geworden.

Das Museum im Leipziger „Graphischen Viertel“ liegt direkt gegenüber dem ehemaligen Reclam-Verlagsgebäude, in dem früher Millionen von Büchern gedruckt wurden. Heute residieren in dem historischen Areal Firmen- und Unternehmen in repräsentativen Büros. Dort könnte sich das Museum niemals die Miete leisten, doch im Haus gegenüber sitzt die gemeinnützige Schulgesellschaft Rahn-Stiftung. Die hat Marquardt das „Souterrain“ überlassen, „in das aber die Aura des Stammhauses herüberstrahlt“. Es ist durch eine Stiege im Hinterhof zu erreichen.

Die „Blaue Mauritius“ unter den Reclam-Bändchen

Unten sitzt Marquardt fast jeden Dienstag und Donnerstag in seinem schwarzen Ledersessel und präsentiert, was er in Jahrzehnten zusammengetragen hat. In den teilweise historischen Regalen, die an das Format der Bändchen angepasst sind, ist nahezu jeder Titel aus dem Leipziger Stammhaus vertreten, das 1867 mit der Produktion der Universal-Bibliothek begann.

Nur die in einer Erstauflage von 5.000 Stück gedruckte Nummer 1 fehlt: Goethes „Faust“, erster Teil. Sie ist eine Art „Blaue Mauritius“ unter den Reclam-Bändchen. Nur von drei Exemplaren ist die Existenz bekannt. Eines befindet sich im Verlagsarchiv in Stuttgart-Ditzingen. Dort siedelte sich 1947 der Westzweig des Verlages an, von dem ebenfalls ein paar tausend Ausgaben in Marquardts Regalen stehen. Das zweite Exemplar befindet sich im Besitz einer Reclam-Erbin. „Die bewahrt es in einer silbernen Schatulle auf und zelebriert das richtig, wenn sie es zeigt“, weiß Marquardt, der diese Kostbarkeit einmal betrachten durfte. Das dritte Einzelstück gehört der Stadt Leipzig. Es war das letzte im Stammhaus befindliche Archivexemplar und ist 1967 dem damaligen Oberbürgermeister zum 100. Geburtstag der Universal-Bibliothek überreicht worden. Und zwar von Marquardts Vater, der den Reclam-Verlag in der DDR leitete.

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Reclam-Bücher in aller Welt

Sein heute 72 Jahre alter Sohn betont allerdings, dass er seine Sammlung völlig unabhängig von seiner verwandtschaftlichen Beziehung zusammengetragen hat. Schon als Jugendlicher hat er damit begonnen und nicht mehr damit aufgehört. Und er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihm eines Tages vielleicht doch noch die legendäre Nummer 1 zufällt, „es könnte ja auf irgendeinem Dachboden ein Exemplar schlummern und ans Tageslicht kommen“.

Bis heute schafft er es nicht, auf Flohmärkten und Antiquariaten an einem Stapel mit Reclam-Heften vorbeizugehen, ohne ihn gründlich durchzusehen. Sogar in Südafrika ist er fündig geworden, wo er einige Jahre an Universitäten gelehrt hat, oder in Australien, woher seine Frau stammt. Deutsche Auswanderer gab und gibt es eben in der ganzen Welt und mit ihnen die kleinformatigen Ausgaben der Universal-Bibliothek, die für wenig Geld zu haben waren und im Koffer kaum Platz wegnahmen. In den ehemaligen deutschsprachigen Siedlungsgebieten, etwa im Baltikum oder in Ungarn, hatten die Buchhändler die Reclam-Büchlein sowieso im Sortiment.

Schweizer Literatur und Feldbüchereien

Besonders groß ist Marquardts Freude über die seltenen Ausgaben mit der Währungsbezeichnung „Silbergroschen“. Die gab es nur bis 1874, als das junge Deutsche Reich auf Mark und Pfennig umstellte. Weniger durchgesetzt hat sich die Universal-Bibliothek in der Schweiz, auch Marquardt hat dafür keine Erklärung. Immerhin erschien in der Reihe sogar das „Schweizer Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937“, das aber im Antiquariatsbuchhandel fast nie auftaucht. Erst vor Kurzem hat Marquardt nach langer Suche ein Exemplar für sein Reclam-Museum erwerben können. Gerne hätte er auch original befüllte Feldbüchereien aus dem Ersten Weltkrieg. Sie gingen in Blechkisten an die Front, um die geschundenen Soldaten mit Lektüre zu versorgen.

Die Verlagsideen der Universal-Bibliothek wirkten auch international, sprich sie wurden oft mehr oder weniger deutlich abgekupfert. So hat in den 1920er Jahren eine japanische Taschenbuchreihe Einbandgestaltung und Format nahezu identisch übernommen. Marquardt hat ein solches Exemplar in einer Vitrine ausgestellt. Zusammen mit Bändchen aus einem jüdischen Verlag, der von 1895 bis 1905 hebräische Bücher nach dem Vorbild der Universal-Bibliothek veröffentlichte.

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Hauptwerke aller Literaturen der Welt

Die erste Idee zur Universal-Bibliothek ist dem unternehmerischen Genie von Anton Philipp Reclam und seinem Sohn Hans Heinrich zu verdanken. Dabei bedienten sie den wachsenden Bildungshunger von Arbeitern und Bürgern. Wohlfeil, also zu niedrigen Preisen, versprachen sie das „Erscheinen sämtlicher classischer Werke unserer Literatur“, ebenso „die besten Werke fremder und todter Literaturen … in guten deutschen Übersetzungen“ und Werke, „die sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen“.

Tatsächlich waren und sind die Hauptwerke aller Literaturen der Welt im Programm. „Da kann man schauen, wohin man will“, erklärt Marquardt, „da ist alles dabei: chinesische Klassiker, indische Lyrik und sogar Übertragungen aus dem Quechua, das ist die Sprache der Inka.“ Auffällig ist, dass eine komplette Bibelausgabe lange in der Universal-Bibliothek gefehlt hat. Möglicherweise weil schon andere Verlage sie massenhaft verbreiteten. Erst zum 500. Geburtstag von Martin Luther 1983 hat das Leipziger Haus eine aufwendig gemachte Ausgabe in zwei Bänden in einem Schuber herausgebracht.

Bücherautomaten vor der Kaserne

Dafür erschien schon früh eine Übersetzung des Koran. Der befindet sich selbstverständlich auch in Marquardts Sammlung. Genauso wie die Graburne Anton Philipp Reclams. Der Verleger hatte sich einäschern lassen, als das in weiten Teilen Deutschlands noch verboten war. Heute befindet sich die Kapsel mit seinen sterblichen Überresten im Familiengrab der Reclams auf dem Stuttgarter Waldfriedhof. Die etwas beschädigte Urne, in der diese Kapsel einmal aufbewahrt war, hat Marquardt von einer Nachfahrin Anton Philipp Reclams für das Museum geschenkt bekommen.

Eine Leihgabe ist dagegen der Nachbau eines Buchautomaten. Insbesondere auf Bahnhöfen konnten sich Reisende mit Lesestoff von Reclam versorgen, der inhaltlich vielleicht schwer, gewichtsmäßig aber wenig wog. Die rund 2.000 Automaten waren ebenso an belebten Straßenkreuzungen, vor Theatern und sogar Kasernen aufgestellt. Gestalten ließ sie der Verlag 1912 durch den berühmten Architekten und Designer Peter Behrens, der auch das Erscheinungsbild der AEG prägte. „Das Vorbild waren amerikanische Kaugummi- und nicht Zigarettenautomaten, wie man vielleicht glauben würde“, erläutert Marquardt.

Dokumentierte Schülerkritzeleien

Das Gerät in seinem Museum ist gebrauchsfähig, neulich erst ließ er den Motor auswechseln. Und wer eine Münze einwirft, kann sich dort ein altes Reclam-Heft ziehen. Marquardt bestückt den Automaten mit Doubletten, also mit Bändchen, die in seiner Sammlung oft dutzendfach vorhanden sind.
Manche dieser Doubletten bewahrt Marquardt sorgfältig auf, auch als Dokumente kreativer Bearbeitungen im Deutschunterricht. Denn natürlich wird auf den Einbänden oft herumgekritzelt, gemalt oder der Radiergummi eingesetzt. Aus Schillers „Kabale und Liebe“ wird dann „Kaba und Liebe“, aus Goethes „Götz von Berlichingen“ der „Kotz von Berlichingen“. So etwas wegzuwerfen, brächte der Sammler nicht übers Herz: „Es sind ja Zeugnisse der Rezeption und der Auseinandersetzung.“ Und darum haben sie auch einen Platz im Reclam-Museum.

Das Reclam-Museum in der Leipziger Kreuzstraße 12 ist dienstags und donnerstags zwischen 15 und 18 Uhr geöffnet. Weitere Informationen unter www.reclam-museum.de.

Alois Bierl
Artikel von Alois Bierl
Chefreporter und Kolumnenautor
Beschäftigt sich mit wichtigen Trendthemen wie Spiritualität.