Melanie Wolfers - Was die Zuversicht nährt - Folge 3
Wir brauchen einander
Spirituelle Gedanken und Texte aus Melanie Wolfers Buch "Zuversicht - Die Kraft, die an das Morgen glaubt".
Ein College-Professor ließ seine Soziologiestudenten in die Slums von Baltimore gehen, um Fallgeschichten über zweihundert Jugendliche zu sammeln. Sie wurden gebeten, eine Bewertung über die Zukunft eines jeden Jungen zu schreiben. In jedem Fall schrieben die Studenten: ,Er hat keine Chance.‘ Fünfundzwanzig Jahre später stieß ein anderer Soziologieprofessor auf die frühere Studie. Er ließ seine Studenten das Projekt nachvollziehen, um zu sehen, was mit diesen Jungen passiert war. Mit Ausnahme von zwanzig Jungen, die weggezogen oder gestorben waren, erfuhren die Studenten, dass 176 der verbliebenen 180 einen mehr als ungewöhnlichen Erfolg als Anwälte, Doktoren und Geschäftsleute erlangt hatten.
Bewertung über die Zukunft
Der Professor war überrascht und beschloss, die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Glücklicherweise lebten alle Männer in der Nähe, und er konnte jeden Einzelnen fragen: ,Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?‘ Jeder von ihnen antwortete: ,Es gab eine Lehrerin.‘ Die Lehrerin war noch am Leben, also machte er sie ausfindig und fragte die (...) Dame, welche magische Formel sie benutzt habe, um diese Jungen aus den Slums herauszureißen, hinein in erfolgreiche Leistungen. Die Augen der Lehrerin funkelten, und auf ihren Lippen erschien ein leises Lächeln. ,Es war wirklich ganz einfach‘, sagte sie. Ich liebte diese Jungen.“
Von dieser Studie habe ich vor vielen Jahren gelesen, und sie geht mir nicht aus dem Kopf. Auf beeindruckende Weise zeigt sie: In der liebenden Anerkennung, die Menschen einander entgegenbringen können, liegt eine kreative Kraft! In der Hoffnung, die sie für andere hegen, liegt ein schöpferisches Potenzial.
Indem die Lehrerin die Fähigkeiten ihrer Schüler vorausschauend anerkannte, ermöglichte sie diesen zu zeigen, was in ihnen steckt. Sie konnten entfalten, was sie noch nicht sind. Darin liegt die bedeutendste Wert-Schöpfung, zu der wir Menschen fähig sind! Vertraut uns eine Person und traut sie uns etwas zu, dann festigt dies unser Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten. Gerade in Krisen – wenn sich das Selbstvertrauen so groß anfühlt wie ein Zwerg mit Hut –, tut es unendlich gut, wenn man erfährt: „Da glaubt jemand an mich und daran, dass ich die Situation bewältigen kann!“ Ein solches Zutrauen legt Kräfte und Entwicklungsmöglichkeiten frei und stärkt unsere Zuversicht.
Zuwendung und Zeit schenken
Ich persönlich erinnere mich an lange, dunkle Monate. Wie wohltuend wirkte es, dass es Menschen an meiner Seite gab, die an mich geglaubt haben. Und die stellvertretend für mich gehofft haben, dass es einen neuen Morgen geben wird. Natürlich lassen sich solche Begegnungen nicht herstellen oder einfordern! Sie sind ein Geschenk.
Doch wir können uns Zeit nehmen, um tragfähige Beziehungen zu pflegen. Und darauf achten, mit welchen Menschen wir engere Beziehungen pflegen wollen – und mit welchen nicht. Vor allem aber lässt sich selbst der Anfang machen, anderen in dieser wertschöpferischen Weise zu begegnen. Ihnen Zuwendung und Zeit schenken; das Schöne und Große in ihnen vorausahnend entdecken und anerkennen; „herauslieben“ – und übrigens ganz nebenbei aus der Begegnung selbst gestärkt herausgehen.
Da sein für andere
Eine weitere Quelle, aus der Zuversicht und Hoffnung entspringen, ist das Vertrauen in andere Menschen; die Erfahrung, auf andere bauen zu können. Insbesondere wenn in Krisen der Boden ins Wanken gerät, kann eine tragfähige Beziehung Halt geben. Und wenn es hart auf hart kommt, setzt das Wissen, getragen zu sein, Zuversicht frei. Ja, hoffen kann man letztlich nicht für sich allein! Vielleicht kennen Sie das auch: Sind Sie mit einer Person zusammen, der Sie vertrauen, verringert sich Ihre Angst, und Sie fühlen sich zuversichtlicher.
Ganz deutlich erlebe ich dies etwa beim Bergsteigen: Eine erfahrene Bergführerin weckt in mir mit gutem Grund Zutrauen – und zwar in sie und in mich selbst, dass ich die ausgesetzten Kletter-Passagen bewältigen werde. Ihre Nähe, ihr rückenstärkender Blick und das sichernde Seil geben genügend Sicherheit, um den nächsten Schritt zu wagen.
Ein Stück Distanz von uns gewinnen
Das „Internationale Forschungsnetzwerk des Hoffnungsbarometers“ belegt eindrücklich die zentrale Rolle von Beziehungen für ein hoffnungsvolles Gestimmtsein: Über zehn Jahre hinweg haben Tausende Studienteilnehmer gute Beziehungen zur Familie und zu Freunden als die wichtigste Quelle von Hoffnung und Zuversicht genannt. Und, damit verbunden, die eigene Hilfsbereitschaft. In Krisenzeiten liegt die Gefahr einer Nabelschau besonders nahe.
Doch wer sich ständig selbst beobachtet und die eigenen Bedürfnisse und Sorgen wie mit einem Vergrößerungsglas betrachtet, dessen Nöte wachsen und wuchern. Wenn wir über unseren Tellerrand hinaus auf andere Menschen blicken, so wird unsere Zuversicht gestärkt. Wenn wir ein Stück Distanz von uns gewinnen, indem wir uns beispielsweise fragen: Was kann ich trotz meiner schwierigen Lage für andere tun? Wie kann ich sie unterstützen oder ihnen eine Freude bereiten?
Im Dasein für andere befreien wir uns – zumindest ein Stück – vom krisenhaften Empfinden, hilflos, unfähig, überfordert, „deppert“ oder Ähnliches zu sein. Wir erleben, dass wir Gutes bewirken können; dass wir etwas tun können, was für andere von Bedeutung ist. – All das löst ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit aus. Es stärkt unser Sinnerleben und unsere Zuversicht.