Persönlichkeitsentwicklung
06.07.2024


Kolumne

Wann ist ein Leben ein gutes Leben?

Wie ziehen wir die Bilanz unseres Lebens? Wann werden wir am Ende unseres Lebens sagen können: Es war ein gutes Leben? Angela Krumpen meint: Ob wir ein gutes Leben haben, entscheidet unser Blick!

„Ach, ich bin ein armer Tropf“, seufzte der Jüngste am Tisch und legte zur dramatischen Untermalung gleich mal den Kopf auf den Tisch. Ich war alarmiert. Denn das war keine kurze Laune, da ging es um sein Grundgefühl. Wir sind eine Pflegefamilie. Und Kinder landen in Deutschland zum Glück nur aus guten Gründen, also wegen schlimmer Dinge, in einer Pflegefamilie. Doch: Wer sich wie ein „armer Tropf“ fühlt, baut kein Fundament für ein gutes Leben. Ganz im Gegenteil.


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Versionen eines Lebens

Spannende Frage: Wann ist ein Leben ein gutes Leben? Die Grande Dame der Literatur, Elke Heidenreich, hat zu ihrem 80sten jüngst ihre Lebensbilanz gezogen. Elke Heidenreich hatte ohne Zweifel ein schweres Leben: Geboren im Krieg, bei Pflegeeltern aufgewachsen, in jungen Jahren Krebs, die Ärzte gaben ihr keine fünf Jahre. So heißt dann auch ihr erstes Kapitel: „Ich habe mein Leben komplett in den Sand gesetzt.“

Was aber auch stimmt: Elke Heidenreich hat als Kleinkind wenig vom Krieg mitbekommen, ein Pfarrer hat sie aus prekären Umständen als Pflegekind aufgenommen, ihr ein Dach, zu Essen und Bildung gegeben. Und den Krebs in frühen Jahren hat sie erfolgreich überwunden. Kein Wunder, dass das zweite Kapitel heißt: „Ich hatte ein unfassbar wunderbares Leben.“ Bevor man verwirrt sein kann und „Ja, was denn nun?“ ausrufen möchte, kommt das dritte Kapitel: „So. Und jetzt suchen Sie sich doch bitte aus diesen zwei Lebensversionen eine aus.“

Wer entscheidet über die Bilanz unseres Lebens?

Nun, die Bilanz eines Lebens kann jede und jeder immer nur selbst ziehen. Aber vielleicht will Elke Heidenreich uns genau darauf stoßen:

Dass wir es sind, die entscheiden, ob unser Leben gut ist. Oder wie gut unser Leben ist. Und vielleicht ist unser Blick auf unser Schicksal noch wichtiger als unser Schicksal selbst.

Denn wie wir unsere Lebens-Lage einschätzen, entscheidet über unser Lebens-Gefühl. Privat und im Übrigen auch kollektiv. Auch unser Blick auf unsere Gesellschaft entscheidet, ob wir denken, Deutschland sei ein Abbruchland oder eines der sichersten der Welt, mit einem großen sozialen Netz.

Das Schlechte nicht wegsülzen, das Gute nicht schlecht reden

Keine Sorge, ich weiß auch, dass die Deutsche Bahn nicht (mehr) immer pünktlich ist, dass es viel zu wenig Betreuungsplätze in Kitas gibt, wie kompliziert Behördenformulare sind, wie teuer Gemüse oder wie schwer oft das Unterrichten in den Schulen geworden ist. Ja.

Aber wer mal im Ausland krank geworden ist, weiß, was wir an unserem Gesundheitssystem haben. Wer je mit Menschen, die in einer Diktatur leben müssen, gesprochen hat, weiß, dass wir hier alles sagen und schreiben und in die Welt schreien dürfen. Gleich, wie gelogen es sein mag. Und wer je in einem wirklich armen Land war, weiß, unter welch unglaublich privilegierten Umständen wir hier leben.

Ich bin ein Glückskind

Zurück zum Jüngsten und meinem Alarmgefühl. Hartnäckig lenkte ich seinen Blick auf sein Leben als „armer Tropf“. Bestätigte immer wieder, ja, er hatte einen schweren Start, musste den Verlust seiner Herkunftsfamilie verschmerzen und viel, viel aufholen. Zugleich sei er jetzt an einem Ort, an dem er wachsen und gedeihen könne. Er kenne das Meer und die Berge, bekomme heiße Schokolade und Gute-Nachtgeschichten.

Heute ist der kleine Junge groß, hat einen Schulabschluss, einen Beruf und eine feine Stelle. Das Jugendamt kommt diese Woche zum letzten Mal und wir lassen die Zeit noch mal Revue passieren. Ungelogen, plötzlich sagt der groß gewordene arme Tropf: „Eigentlich bin ich ja doch ein Glückskind, Mama.“

Angela Krumpen
Artikel von Angela Krumpen
Journalistin, Moderatorin und Autorin
Überrascht (und ein bisschen stolz) war sie, als sie mal als „Aktivistin für ein gutes Leben“ angekündigt wurde. Passt aber, denn das Motto ihrer Arbeit ist: „Ein gutes Leben für alle“. Mehr unter: www.angela-krumpen.de