In Vertrauen und Wertschätzung liegt echte Power!
Philosophin und Mutmacherin Melanie Wolfers erinnert sich noch heute an eine Studie, die sie vor vielen Jahren gelesen hat. Diese zeigt: Zwischenmenschliches Vertrauen unterstützt Menschen, ihre Potenziale zu entdecken.
In den USA wurde vor vielen Jahren eine bemerkenswerte Studie erstellt. Soziologen hatten Bewertungen über die zu erwartende Zukunft von insgesamt 200 männlichen Jugendlichen erstellt, die in den Slums von Baltimore lebten. In jedem einzelnen Fall lautete das Ergebnis: „Der Junge wird keine Chance haben.“ 25 Jahre später wurde die Studie überprüft, was aus diesen Jugendlichen geworden war. Das Ergebnis: Fast alle hatten einen mehr als ungewöhnlichen Erfolg als Anwälte, Doktoren und Geschäftsleute erlangt.
Man beschloss, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Glücklicherweise konnten alle Männer aus der damaligen Studie befragt werden: „Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?“ Jeder von ihnen antwortete: „Es gab da eine Lehrerin.“ Die besagte Lehrerin konnte ausfindig gemacht werden. Man fragte die alte Dame, welche magische Formel sie benutzt habe, um diese Jungen aus den Slums herauszureißen, hinein in erfolgreiche Leistungen. Die Augen der Lehrerin funkelten, und auf ihren Lippen erschien ein leises Lächeln. „Es war wirklich ganz einfach“, sagte sie. „Ich liebte diese Jungen.“
Von dieser Studie habe ich vor vielen Jahren gelesen und sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die Lehrerin liebte ihre Schüler – und das ermöglichte ihr, hellsichtig und vorausschauend zu erkennen, welche Potenziale in ihnen schlummert. Und dadurch konnten die Jungs zu zeigen, was in ihnen steckt. Sie konnten entfalten, was sie bis dahin noch nicht waren.
Liebe als Schlüssel zum Erfolg
„Liebe macht blind.“ - so lautet ein bekanntes Sprichwort. Aber es gilt auch: Liebe macht sehend. Oder wie es in der spirituellen Tradition heißt: „Ubi amor, ibi oculus.“ (Wo Liebe ist, dort sind Augen.) Denn wenn ich eine Person wohlwollend anschaue, dann entdecke ich ihre Schönheit und Größe. Wenn ich ihr wertschätzend begegne, dann können ich die Potenziale herauslocken, die in ihr schlummern. Kurz:
Der wohlwollend-wertschätzende Blick ist eine kreative Kraft! In der Hoffnung, die wir für andere hegen, liegt ein schöpferisches Potential.
Begegnen wir Menschen zugewandt und wertschätzend, dann können wir sie in ihrer Selbstentfaltung begleiten. Wir können dazu beitragen, dass sie ein Growth Mindset entwickeln: d.h. ein Vertrauen in sich und das Leben. Wir stärken ihre Zuversicht. Und darin liegt die bedeutendste Wert-Schöpfung, zu der wir Menschen fähig sind!.
Urvertrauen: Weg zur mentalen Stärke
Vertraut uns eine Person und traut sie uns etwas zu, dann festigt das unser Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten. Gerade in Krisen – wenn sich das Selbstvertrauen so groß anfühlt wie ein Zwerg mit Hut –, tut es unendlich gut, wenn man erfährt: „Da glaubt jemand an mich und daran, dass ich die Situation bewältigen kann!“ Ich persönlich erinnere mich an lange, dunkle Monate. Wie wohltuend wirkte es, dass es Menschen gab, die an mich geglaubt haben. Und die stellvertretend für mich gehofft haben, dass es einen neuen Morgen geben wird.
Eine weitere Stütze ist das Vertrauen in andere Menschen; also die Erfahrung, auf andere bauen zu können. Insbesondere wenn der Boden ins Wanken gerät, kann eine tragfähige Beziehung Halt geben. Sind wir mit einer Person zusammen, der wir vertrauen, verringert sich unsere Angst und wir fühlen uns zuversichtlicher. Ganz deutlich erlebe ich dies etwa beim Bergsteigen: Eine erfahrene Bergführerin weckt in mir Zutrauen – und zwar in sie und in mich selbst, dass ich die ausgesetzten Kletter-Passagen bewältigen werde.
Natürlich lassen sich tragfähige, vertrauensvolle Beziehungen nicht einfach herstellen oder einfordern! Sie sind ein Geschenk. Doch wir können uns Zeit nehmen, um tragfähige Beziehungen zu pflegen. Und wir können selbst den Anfang machen, anderen in dieser wert-schöpferischen Weise zu begegnen. Ihnen Zuwendung und Zeit schenken – und übrigens ganz nebenbei aus der Begegnung selbst gestärkt herausgehen.
Ein spiritueller Instinkt
Das Vertrauen in andere kann enttäuscht werden – so wie man selbst dem Vertrauen nicht immer gerecht wird, das andere einem schenken. Und ebenso kann das Vertrauen in eigene Fähigkeiten Schiffbruch erleiden. Umso wichtiger ist es, zu unterscheiden zwischen dem Vertrauen in eine konkrete Person oder Fähigkeit und einem wortwörtlich grund-legenderen Vertrauen. Letzteres wird in der Psychologie „Urvertrauen“ genannt. Treibt einen das Leben in die Enge und sitzt einem die Angst im Nacken, dann vermögen Menschen dank dieser Kraft dennoch darauf zu bauen: Das Leben wird mich schon irgendwie durch den Engpass bringen – so ähnlich, wie ich durch einen engen Geburtskanal in diese Welt gekommen bin.
Aus religiöser Sicht verdankt sich dieses Vertrauen dem Gespür für eine Wirklichkeit, die größer ist als wir selbst und alles Endliche. Stehen wir mit diesem göttlichen Geheimnis in Verbindung, dann gibt dies unserem Leben Licht und Wärme. Und es ermutigt in Zeiten von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu beherzigen, was Hilde Domin so faszinierend schön ausdrückt:
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise wie einem Vogel
die Hand hinhalten