Wie Empathie Zufriedenheit und Verbundenheit fördert
Viele Menschen begegnen heute der Welt mit großem Misstrauen. Der Psychotherapeut und Autor Sina Haghiri zeigt, warum das so ist und wieso Empathie zu größerer Zufriedenheit und einem besseren Zusammenleben führt.

Frau Knöll und ich stehen im Zwischengeschoss einer belebten Haltestelle. Sechs U-Bahn-Linien, fünf Straßenbahnen und zwei Bus-Linien treffen hier aufeinander. Über 100.000 Fahrgäste steigen pro Tag ein, aus oder um. Frau Knöll hält in ihrer Hand einen Einhandzähler, ein kleines metallenes Gerät mit Ziffernblatt, dessen Anzeige man per Daumenklick um eine Zahl erhöhen kann. Bei Veranstaltungen kann Security-Personal mit solchen Geräten zum Beispiel den Überblick darüber behalten, wie viele Gäste bereits den Saal betreten haben.
Frau Knöll ist mittleren Alters und wird immer wieder von einer diffusen, gedrückten Stimmung heimgesucht. Weil sie etwas gegen ihren zunehmend schlechteren Zustand unternehmen möchte, hat sie sich vor drei Monaten an mich gewendet.
Negative Annahme versus Realität
Frau Knöll und ich stehen im Zwischengeschoss, um eine ihrer fest verankerten Annahmen zu überprüfen: Sie meint, die meisten Menschen seien heutzutage rücksichtslos und würden nur auf sich selbst achten. Wer in dieser Gesellschaft sensibel sei, habe keine Chance. Diese Grundannahme über sich und andere prägt ihr Erleben und Verhalten. Ich werde sie mit dieser Intervention nicht vom Gegenteil überzeugen, aber vielleicht setzen wir einen ersten Impuls. Denn immer, wenn mein Glaube an die Menschheit schwindet, mache ich die Übung auch selbst im Geist: Frau Knöll soll jedes Mal den Klicker in ihrer linken Hand betätigen, wenn sie jemanden beobachtet, der sich rücksichtsvoll verhält.
Zunächst scheint sie solche Menschen nicht zu bemerken – auch das ist eine Folge ihrer Grundannahmen und ihres aktuellen Befindens, eine Art Symptom. Ich erinnere sie noch einmal an unsere Aufgabe und lenke ihre Aufmerksamkeit auf die vielen Leute, die anderen den Vortritt auf der Rolltreppe lassen. Sie klickt los: 1, 2, 3, 4. Jemand rennt einer Person hinterher, um ihr den aus der Tasche gefallenen Schal zu bringen. Klick. Eine junge Frau hilft einem älteren Herrn, sein Fahrrad auf der Rolltreppe zu stabilisieren. Klick. Jemand geht unaufgefordert auf zwei orientierungslos wirkende Reisende zu und bietet Hilfe an. Klick. Nach dreißig Minuten klickt der Einhandzähler in ihrer linken Hand zum 44. Mal. Halbzeit und Handwechsel.
Nadeln im Heuhaufen
Mit dem Klicker in der rechten Hand soll Frau Knöll nun alle negativen Verhaltensweisen zählen: rücksichtslose Menschen, unhöfliches Verhalten und gefährliche Situationen, die durch Nachlässigkeit entstehen. Sie betätigt den Klicker zum Beispiel, als ein Jugendlicher noch in die U–Bahn hechtet, während die Türen sich schon schließen und die Weiterfahrt dadurch verzögert.
Ich hatte Frau Knöll in der ausgiebigen Vorbesprechung der Übung unter anderem gebeten, eine Schätzung abzugeben: Wie wird das Verhältnis der positiven und negativen Beobachtungen am Ende sein? Mindestens ausgeglichen, meinte sie. So, wie sie diese U-Bahn-Station kenne, wahrscheinlich deutlich negativer.
Nach einer Stunde stellen wir die Zahlen gegenüber: In der linken Hand stehen 44 Klicks. In der rechten sind es sechs. Frau Knöll fängt an zu weinen.Dabei sind die Zahlen nicht überraschend. Das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung. Es gibt sogar einen tragischen, wissenschaftlichen Beleg dafür, dass fremde Menschen selbst unter furchtbaren Umständen sehr viel besser zueinander sind, als Frau Knöll vermutet.
Die Ruhe im Auge des Orkans
2005 gab es eine Serie von Terroranschlägen in London: Selbstmordattentäter zündeten insgesamt vier Bomben in U-Bahnen und einem Bus. 52 Menschen starben, viele Hunderte wurden verletzt. Eine Forschungsgruppe analysierte, wie sich die verunsicherte Londoner Bevölkerung während dieses schrecklichen Geschehens verhielt.
Nur achtzehn Menschen berichteten von annähernd egoistischem Verhalten. Die Zahl ist großzügig gewertet. Es ging zum Beispiel darum, dass vier Menschen sich selbst als egoistisch bezeichneten, da sie "nicht genug" geholfen hätten. Mehr als 200 Personen hatten dagegen gesehen, wie jemand sich hilfreich verhielt. Sie beobachteten, wie Menschen jemanden tröstend umarmten, anderen Mut zuredeten oder den Vortritt ließen; sich gegenseitig über Hindernisse halfen oder andere aus Trümmern herauszogen. Und das alles taten sie, während sie in großer Angst um ihr eigenes Wohl waren. Warum hat Frau Knöll im ganz normalen Alltag trotzdem etwas ganz anderes, etwas Schlechteres von ihren Mitmenschen erwartet?
Trügerische Illusion gefühlter Wahrheit
Es ist nicht ihre Schuld, dass sie sich so verschätzt hat. Der Kontext, in dem sie aufgewachsen ist, und die Zeit, in der sie jetzt lebt, haben Druck auf sie ausgeübt. Und nicht nur auf sie.Für uns alle ist die Versuchung groß, Misstrauen gegenüber anderen zu entwickeln.
Die Welt als kalten Ort zu sehen, in der andere Personen eine mögliche Gefahr darstellen. Für dieses Welt- und Menschenbild lassen sich unzählige vermeintliche Belege finden. Heute liefert jede Tageszeitung und Nachrichten-App 24 Stunden am Tag weitere Hinweise darauf, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Verbrechen, Katastrophen und Konflikte soweit das Auge reicht.
Noch nie hatten wir Menschen Zugriff auf so viel Gefahreninformation aus aller Welt. Aber unsere Psyche ist nicht darauf vorbereitet, so große Mengen an Information zu verarbeiten. Für unseren Geist fühlt es sich so an, als ob sich jede globale Krise direkt vor unserer eigenen Haustür abspielt. Auf einer Vernunftebene meinen wir, auseinanderhalten zu können, dass wir Nachrichten aus anderen Stadvierteln, Bundesländern oder sogar Kontinenten lesen. Aber dabei unterschätzen wir: Die Bereiche unseres Gehirns, die für Emotionen zuständig sind, können diese Unterscheidung nicht treffen! Und genau diese Bereiche füttern wir täglich mit immer mehr Warnmeldungen. Daraus entsteht Angst.
Folgen für das Zusammenleben
Können wir bei diesem Eindruck überhaupt anders, als misstrauisch oder zumindest vorsichtig auf andere zuzugehen? Das Fatale ist: In der Folge kann es sehr leicht passieren, dass wir anderen Menschen böse Absichten unterstellen, und dass wir ihr Verhalten als Bestätigung eben dieser vermuteten Intentionen interpretieren.
Auf gesellschaftlicher Ebene werden die Gräben dadurch immer tiefer: Menschen übernehmen Ressentiments, sehen sie durch Einzelfälle bestätigt und übertragen sie auf ganze Gruppen. Auf individueller Ebene lösen wir durch unsere Erwartungshaltung oft erst die irritierten Reaktionen beim Gegenüber aus. Andere Menschen nehmen Abstand von uns – häufig, ohne dass wir es bemerken –, da sie es uns kaum recht machen können. Das verstehen wir wiederum als Beleg dafür, dass wir uns nicht auf sie verlassen können.
Ein sich selbst verstärkender Teufelskreis beginnt.
Und wir sind gerade dann anfällig für den ersten Schritt hinein, wenn es uns selbst am schlechtesten geht und wir ihn am wenigsten gebrauchen können.
Vom Regen in die Traufe
Bei Frau Knöll war es eine Trennung; es hätte aber auch eine Erkrankung, ein Unfall oder jede andere Krise sein können. Es ist ihr zu dem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, aber mit einigen Jahren Abstand sieht Frau Knöll, dass sie damals zutiefst verletzt und darum nicht sie selbst gewesen ist. Sie steckte unverschuldet und hilflos in einer katastrophalen Situation, in der sie keinen Zugriff mehr auf ihre normale Kraft und Gelassenheit hatte. In ihrer Not stiegen ihre Erwartungen an ihre Mitmenschen, und gleichzeitig wurden ihre Urteile über andere immer härter. Sie wurde dünnhäutiger, reagierte gereizter und interpretierte das Verhalten anderer immer skeptischer: Wurde ihr Hilfe angeboten, war es die falsche Art von Hilfe. Meldete man sich zu oft bei ihr, meinte sie, man mache ihr Druck. Ließen ihre Freunde sie stattdessen in Ruhe, fühlte sie sich von ihnen im Stich gelassen.
Mit Nachsicht
Was hätte Frau Knöll in dieser Situation geholfen, den Teufelskreis zu durchbrechen? Was hätte verhindert, dass sie sich immer weiter isoliert? Nachsicht – und zwar auf beiden Seiten! Von ihrem Umfeld Nachsicht für ihre Notlage und Hilflosigkeit. Und von ihr Nachsicht dafür, dass ihre Mitmenschen manchmal unbeholfen reagieren oder nicht genau so, wie sie es sich wünscht. Die Fehlbarkeit des Menschen anzuerkennen bedeutet, sich selbst und anderen Fehler zu verzeihen – wenn dahinter keine böse Intention steckt. Und genau diese Unterscheidung ist sehr schwer zu treffen. Denn nicht immer haben wir alle Informationen, um dies zu tun. Manchmal scheitert es auch an den Ressourcen, also der Kraft und Aufmerksamkeit, die uns zur Verfügung stehen. Denn sich in andere hineinzuversetzen und sich zu fragen: "Was könnte diese Person motiviert haben?” ist anstrengend.Es hilft also, gut zu uns selbst zu sein, um überhaupt gut zu anderen sein zu können. Beides befruchtet sich gegenseitig.
Lesen als Empathietraining
Manchmal ist zwar die Bereitschaft da, sich in andere hineinzuversetzen, aber es scheitert an der Fähigkeit. Denn Empathie ist nicht nur anstrengend, sondern auch komplex. Die Absichten unseres Gegenübers zu erahnen ist herausfordernd, auch wenn wir häufig zumindest Hinweise aus der Körpersprache oder aus vorherigen Interaktionen haben. Dies alles aufmerksam zu beachten fällt schwer.
Ein Training dafür kann das Lesen von Belletristik sein. Ich höre oft, dass Leute, die gerne und viel lesen, eine gute Menschenkenntnis hätten. Das ist leicht zu erklären und wurde von der Psychologie auch oft untersucht.Denn Romane zu lesen ist letztlich nichts anderes als ein Training in Empathie!
Wir versetzen uns in unterschiedliche, manchmal sogar sich widersprechende Charaktere und lernen, sie zu verstehen. Nichts anderes ist soziale Intelligenz und Empathie.
Wir sitzen alle im gleichen Boot
Ich mache die kleine Zähl- und Beobachtungsübung häufig. Sie behebt nicht das Problem, aber sie bereitet den Weg, um Nachsicht zu entwickeln. Sie ist ein Beginn, um langsam an unserem Weltbild zu arbeiten und zu mehr Nachsicht und Empathie zu finden.
Mit einem nachsichtigeren Menschenbild gehen wir davon aus: Uns passieren – genauso wie anderen – Fehler, sei es aufgrund von Unzulänglichkeiten, von Hilflosigkeit oder Überforderung und aufgrund der komplexen Probleme, die uns allen begegnen. Fehler, durch die wir andere Menschen ohne Absicht verletzen. Wir alle haben schon mal jemanden verletzt und werden das auch in Zukunft wieder tun, egal, wie sehr wir uns bemühen.
Und daher ist es Nachsicht, die wir dringend brauchen: Nachsicht von anderen – und auch für andere. Denn dann gelingt es uns, auch Nachsicht mit uns selbst zu entwickeln.
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