Vom Anfang bis zur Apokalypse - Folge 4
Moses in der U-Bahn
Unser Kollege, Chefreporter Alois Bierl, wird in einem Jahr die komplette Bibel lesen. Jede Woche lässt er uns an diesem spannenden Experiment und seinen Erfahrungen teilhaben.
Wo packe ich zwischen Büro, E-Mails und Haushalt, zwischen Kino, angenehmen Zerstreuungen und Familienleben bloß den Moses hin? Das Arbeits- und Freizeitleben des 21. Jahrhunderts hat meine Bibellektüre eingeholt: meistens bin ich entweder in Hektik oder abgespannt und vertrödele Stunden, ohne es richtig zu merken. Die Bibelausgabe, die ich von der ersten bis zur letzten Zeile lesen will, hat gut 1800 Seiten, mit Kommentar. Wenn ich den weglasse, sind es vielleicht noch 1500. In elf Monaten will ich beim letzten Vers der Offenbarung des Johannes angekommen sein. Ich habe schon einmal vorgeblättert: „Die Gnade des Herrn sei mit allen!“ (Off 22,21).
Jeden Tag vier bis fünf Seiten oder auf die Woche umgerechnet 29 bis 35 Seiten in der Heiligen Schrift zu lesen, das sollte doch zu schaffen sein. Dafür habe ich mich entschieden, weil der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs mich packt, der sonderbare Kapriolen schlägt, fürchterliche Wutausbrüche hat und trotzdem unverbrüchlich treu ist. Es sollte doch ein Vergnügen sein, jeden Tag ein halbes oder wenigstens ein Viertelstündlein in dem Liebesroman zwischen Gott und den Menschen zu lesen, der die Bibel doch ist. Ist nach vier Wochen, aber kein Vergnügen mehr, zumindest nicht immer, sondern ein Zeitproblem.
Anfangs war ich fleißig und begeistert, bin morgens etwas früher aufgestanden und achtete streng darauf mein Seitenpensum zu schaffen. Manchmal ganz romantisch bei Kerzenlicht. Damit war es vorbei, als das Enkelkind drei Tage und Nächte zu Besuch war, am Morgen frühstücken und spielen und keinen bibellesenden Opa wollte. Am Abend waren mir Lust und Ehrgeiz vergangen, Moses oder die Sippenverbände von Ruben, Simeon oder Levis und wie sie alle heißen zwischen die letzten Stunden des Tages zu quetschen. Bibellesen ist keine Arbeit, aber doch eine besondere Handlung und keine Entspannung. Das habe ich vorher schon gewusst, jetzt spüre ich es auch.
Haltepunkte freihalten
„Als ich ein paar Tage mit der U-Bahn zur Arbeit gefahren bin und an einem Samstag mit der Eisenbahn einen Ausflug gemacht habe, habe ich mir eine kleine Taschenbibel mitgenommen, um auf den Fahrten zu lesen. Das hat zwar knapp für das Tages- und Wochenpensum gereicht, aber ich war kein aufmerksamer und danach ein unzufriedener Leser. Außerdem fahre ich meistens mit dem Fahrrad ins Büro. Also muss ich meine Lektüre alltagstauglicher machen.
Der Plan ist, drei Haltepunkte im Tag freizuhalten und an einem davon meine Lektürestrecke zu schaffen: Morgens vor dem Frühstück, vor dem Mittagessen oder nach dem Abendessen. Ich setze mich hin, schlage die neue Stelle auf und atme dreimal ruhig durch und dann geht´s los. Einen Vers aus dem gelesenen Abschnitt schreibe ich auf und schaue ihn mir vor dem Einschlafen noch einmal an. Drei Tage hat die Methode schon ganz gut geklappt und an einem davon haben mich die Verse fortgerissen und ich habe zwölf Seiten geschafft. Und wenn es einmal nicht klappt, weiche ich aufs Wochenende aus, gehe früh zu Bett und lese am Morgen. Vielleicht wieder ganz romantisch bei Kerzenlicht. Bisher hat´s funktioniert, die Bibel hat mich wieder.