Vom Anfang bis zur Apokalypse - Folge 5
Das Bundeszelt als Kopfkino
Unser Kollege, Chefreporter Alois Bierl, wird in einem Jahr die komplette Bibel lesen. Jede Woche lässt er uns an diesem spannenden Experiment und seinen Erfahrungen teilhaben.
Am Anfang kostet es etwas Überwindung. Aber bei der Beschreibung des Bundeszeltes in den Büchern Exodus und Numeri hat sie sich auf alle Fälle gelohnt. Gott verlangt von Mose, ihm ein Heiligtum zu machen. Und dann folgen viele Seiten Baubeschreibung und Montageanleitung, ich muss an Ikea-Regale denken. Nach einigen Versen lese ich darüber immer oberflächlicher hin, bleibe aber an „Schleifen aus violettem Purpur“, „vierzig Sockel aus Silber“ oder „gezwirntem Byssus“ hängen. Byssus, das kenne ich aus dem italienischen Wallfahrtsort Manoppello. Dort hängt ein Tuch, das ein lebensechtes Bild von Jesus zeigen soll. Kenner sagen, dass es aus Byssus ist, die Fäden dafür sind aus den Sekreten von Muscheln gewonnen, weshalb es auch den Namen Muschelseide trägt. Gut kann ich mich entsinnen, wie gebannt ich vor dem Tuch stand, das jeden veränderten Lichteinfall aufnahm, von einer Aura umgeben war und sich ständig anders zeigte.
Ich halte inne, bevor ich dann wieder nur so obenhin über die Exodus-Zeilen gleite und mich gleichzeitig ermahne: Schade, dass du das nicht tiefer aufnimmst, du spürst doch, da ist ein Zauber wie in Tausenundeine Nacht verborgen. Und ich überwinde mich und lese die vielen Zeilen laut. Ein wenig verschämt, könnte ja plötzlich ein Familienangehöriger ins Zimmer kommen und sich fragen, was ich da tue. Ich höre meiner Stimme zu und immer mehr baut sich vor mir dieses Bundeszelt auf, in dem ein Altar aus Akazienholz steht, zwei Kerubime aus Gold, kupferne Pfannen. Die Zeltdecken sind aus Ziegenhaar und Tierhäuten, sie schützen die heilige Bundeslade mit den Gesetzestafeln – vor denen hängt der Vorhang aus Byssus.
Ich sehe das Zelt vor mir, wie es auf steinigem Boden in der Wüste steht, rieche das Leder, den Weihrauch und die verbrannten Harze, alles ist imprägniert von ihrem Aroma. Der Wind weht hinein, und bewegt sanft das geheimnisvolle Byssusgewebe. Etwas Unsichtbares zieht ein ins Sichtbare. Völlig logisch, dass Gott hier anwesend sein muss.
Aus der Tonspur wird Kopfkino
Im Timna-Park in Israel ist das Bundeszelt nachgebaut und im Internet schaue ich mir Fotos davon an. Sind ziemlich matt und glanzlos, meine eigene Vorstellung gefällt mir da viel besser. Mit dem lauten Vorlesen lade ich mich selbst zum Bibelträumen ein, aus der Tonspur wird ein Kopfkino, aus dem Wort ein Bild, mein Bild. Ich kann es mit mir herumtragen, wie die das wandernde Gottesvolk sein Bundeszelt und auspacken, wenn es dafür Zeit ist. Natürlich merke ich beim Lesen der Verse, das da manches nicht ganz zusammenstimmt, Wiederholungen vorkommen und die Bibel-Schreiber wahrscheinlich das mythische Bundeszelt mit der liturgischen Ausstattung des Jerusalemer Tempels möbliert haben.
Sie haben eine erzählerische Verbindung zwischen den Jahrhunderte voneinander entfernten Kultstätten geschaffen: dem transportablen, bescheidenen Zelt und dem festgebauten, prächtigen Gotteshaus. Vielleicht wollten sie sagen, dass es zu manchen Zeiten eine bewegliche Verehrung und einen beweglichen Gott braucht und dann wieder einen festen, sicheren Platz, an dem der Herr unverrückbar festhält, um sich dort immer finden zu lassen. Sie haben ihre orientalische Phantasie spielen lassen. Wenn die Bibelgelehrten das durften, kann Phantasie bei der Lektüre der Heiligen Schrift ja nicht verboten sein. Lautes Vorlesen hilft ihr auf die Sprünge.