Vom Anfang bis zur Apokalypse - Folge 27
Hinter mir die Weisheit – vor mir die Propheten
Unser Kollege, Chefreporter Alois Bierl, wird in einem Jahr die komplette Bibel lesen. Jede Woche lässt er uns an diesem spannenden Experiment und seinen Erfahrungen teilhaben.
Viele Verse haben ihren ganz eigenen Kniff, ein kraftvolles unerwartetes Bild. Die Weisheitsbücher habe ich gerne gelesen, weil sie mich an andere Schriftsteller erinnern, die ich gern habe: etwa an Georg Christoph Lichtenberg. Mit seinen berühmten „Sudelbüchern“ hat er einen deutschen Klassiker der Aphorismenliteratur geschrieben, also kurze, prägnante Weisheitssprüche, wie sie auch bei Jesus Sirach oder bei Kohelet zu finden sind. Bestimmt hat der Pfarrerssohn und Physiker aus dem 18. Jahrhundert diese biblischen Bücher gekannt und daraus gelernt. „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“, ist einer seiner bekanntesten Aphorismen. Mal schauen wie das wird, nachdem ich nun mit den Propheten angefangen habe. Hohl hat da bisher noch nichts geklungen. Jesaja, der am Anfang steht, schon gar nicht. Und mein Kopf ist von der Vorbereitung auf die Lektüre auch ganz voll.
Kommentar über 200 Jahre Politik
Etwa dass in dem Buch ein Deutero- und ein Tritojesaja, also ein zweiter und dritter Jesaja enthalten sind. Ab dem 40. Kapitel ist ein anderer Autor auszumachen als in den Abschnitten zuvor und nach dem 56. Kapitel wiederum ein anderer. Sonst hätte Jesaja über 200 Jahre alt werden müssen, das lässt sich sogar von exegetisch unbeschlagenen Lesern erkennen, die entweder die Geschichtsbücher der Bibel kennen oder in den historischen Überblick im Anhang der meisten Ausgaben schauen. Denn das erste Prophetenbuch kommentiert alle politischen Angelegenheiten von 740 bis etwa 530 v. Chr. Und das mit Leidenschaft. Jesaja greift alle an, die die Geschichte in der Hand haben, aber keinen moralischen und keinen religiösen Kompass. Und er kämpft für diejenigen, die das aushalten müssen, die einfachen Leute, selbst wenn die oft genug mitirren, den Scharlatanen und ihrem Weg ins Verderben nachlaufen. Es ist unvermeidlich, dass ein solcher Prophet immer wieder auf die Nerven geht, weil er mit seinen Moralkeulen grundsätzlich immer recht hat. „Ich hab´s Euch doch gesagt“, kann ein Prophet stets selbstgewiss behaupten.
Kein Sympathieträger
Wahrscheinlich war Jesaja, der um 740 v. Chr. gelebt hat, deshalb kein sympathischer Mensch, das gehört jedoch nirgendwo zur Stellenbeschreibung eines Propheten. Ich merke selbst, wie er mit seinem schonungslosen Dauerkritisieren Unbehagen und Unsicherheit in mir auslöst. Entweder ist der Einzelne oder eine ganze Gesellschaft zu lau, zu hitzig oder zu unbesonnen. Mahnungen, die irgendwie immer stimmen und sich abnützen. Jesaja hatte trotzdem stets Konjunktur. Bei der Lektüre ist schon in den ersten Kapiteln zu spüren warum: Es geht ihm nicht ums Rechthaben, sondern ums Heil. Nicht nur um das eigene, sondern, über fast 2800 Jahre hinweg, sogar um meines.
Weise hier, leidenschaftlich da
Jesaja warnt davor und wirbt mit Leidenschaft dafür, dass Gott nicht vergessen und verloren wird, so schwer einem das fällt, wenn die Welt oder die Kirche wieder einmal Kopf steht. Das ist keine hohle, sondern eine mit heißem Herzen erfüllte und auch aufwühlende Botschaft. Die Weisheitsbücher legen dem Leser nahe, klug und rational abzuwägen, unaufgeregt und zurückhaltend zu leben, auf sich zu schauen, die Leidenschaften zu zügeln, eben weise zu sein. Die Weisheitsbücher beschreiben, wie ohne Gerechtigkeit, das Leben verkümmert. Der Prophet Jesaja fordert sie, vehement und in sehr genau erfassten geschichtlichen und politischen Zusammenhängen. Da feurige Buch des Propheten Jesaja beunruhigt und verunsichert. Es fordert mich auf, die abgewogene Weisheit auch einmal hinter mir zu lassen, ungeschützt und mit Schärfe nach außen zu gehen. Das ist eben Bibel: kein Einheitsbrei, sondern viele Tonlagen.