
Buchprofile - Rezension
Das Alltagsleben Münchner Obdachlosen, ihre Scham, ihre (nicht) vorhandene Solidarität, ihr Schicksal, das sie zu dem macht, was sie sind.
Karl durchstreift München. Regelmäßig nutzt er die Essensaugabe in Sankt Bonifaz, die Bahnhofsmission und die Kleiderkammer. Einst war er Mathelehrer und glücklicher Familienvater, bis ihm ein Junge vors Auto lief. Von jeder Schuld freigesprochen, konnte er den Tod des Jungen doch nicht verkraften … Auch sein Freund Lenz schlägt sich so durch. Auf der Suche nach Karl, spürt er, dass sein Ende naht. Er will ihm seine Zettel, auf denen er seine utopische Weltvorstellung notiert hat, und seine Wohnung vererben. Für Karl könnte das einen Neuanfang bedeuten. Doch da gibt es auch noch Kurt, der, gerade aus der Haft entlassen, selbst auf der Suche nach einer Unterkunft ist und es nicht nur deshalb auf Karl abgesehen hat. - Auch andere Schicksale berühren. So das von Mechthild, die nach mehreren Fehlgeburten nicht mehr glücklich werden konnte, oder das von der Bettlerin, die für das Überleben ihrer Kinder im Ausland sorgt. - Dies ist ein gelungener Debütroman, der gekonnt Menschen vom Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Er erzählt von deren Scham des sozialen Abstiegs, weckt aber auch Verständnis für ihre Gründe, die dazu führten. Weder erniedrigende oder gewaltsame Erfahrungen, weder Solidarität noch Ausgrenzung werden ausgelassen. Sicherlich ein unbequemes Thema, dem hier eine authentische, eindrucksvolle Stimme verliehen wird, und das zum Nachdenken anregt. Ein Buch, dem man viele Leser/-innen wünscht.
Nicole Lorrig
Weiterlesen
Artikelbeschreibung
In Der Sandler wird eine Geschichte erzählt, die eigentlich gar nicht erzählt werden darf. Denn sie handelt von der Scham des sozialen Abstiegs - und diese Scham macht die Betroffenen schweigen. Der Sandler ist deshalb eine fiktive Geschichte, die Obdachlose ins Zentrum stellt und trotz aller Fiktion ein realistisches und vielschichtiges Bild ihres Alltags auf den Münchner Straßen vermittelt.
Einer von ihnen ist Karl Maurer. Er mäandert durch die Stadt, besucht Suppenküchen und Kleiderkammern und manchmal wird er von den Bildern seines früheren Lebens eingeholt - von seiner Frau und seiner kleinen Tochter, der Zeit als Mathematiklehrer und dem Kind, das ihm vors Auto lief. Gleichzeitig durchstreift auch sein Freund Lenz die Stadt auf der Suche nach ihm. Lenz, ein Zettelschreiber und Utopist, merkt, dass es mit ihm zu Ende geht. Er will Karl seine unfertigen Notizen vermachen und, was noch viel wichtiger ist, den Schlüssel zu seiner Wohnung, die er geerbt hatte, in der er sich abe
r geweigert hatte zu leben.
Lenz' Tod ist ein Wendepunkt. Die Wohnung könnte Karls Chance sein, die diffusen, stets auf die lange Bank geschobenen Pläne, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, in die Tat umzusetzen. Gleichzeitig merkt auch Kurt, ein Haftentlassener, der stets den Angriff für die beste Verteidigung hält, dass er sein Leben ändern muss. Auch er sucht eine Bleibe, die er mit niemandem mehr zu teilen braucht.
Der Sprachlosigkeit der Obdachlosen setzt Markus Ostermair eine Sprache entgegen, die nahe an ihr Leben heranführt, ohne dabei zu werten, zu romantisieren oder voyeuristisch zu sein.
Personeninformation
Ostermair, Markus
Markus Ostermair, geboren 1981, arbeitet seit seinem Studium der Literaturwissenschaft als Übersetzer, Texter und Lehrer für Englisch sowie Deutsch als Fremdsprache. Seine Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit begann in der Bahnhofsmission München als Zivildienstleistender. Er nahm an der Bayerischen Akademie des Schreibens teil und erhielt für Der Sandler diverse Stipendien und Förderpreise, darunter das Literaturstipendium der Stadt München und ein Residenzstipendium auf Schloss Wiepersdorf. Der Sandler ist sein literarisches Debüt. Der Autor steht für Lesungen zur Verfügung.
Mehr zum Thema
Schlagwörter