Kolumne
Ich, ich, ich! Wenn Selfcare zum Egoismus wird und Gemeinschaft schwächt
Selfcare ist im Trend, aber warum vor allem an sich selbst denken? Gemeinschaft und Gemeinde werden unmöglich, wenn individuelle Befindlichkeiten im Vordergrund stehen, beobachtet Frank Berzbach.
Die neue Unverbindlichkeit
Meine Verlobte und ich laden gerne ein. Wir versuchen Menschen zusammenzubringen, bieten kleine Konzerte und Lesungen an – aber wir werden damit wieder aufhören. Unser Engagement der letzten Jahre scheitert an einem gesellschaftlichen Trend, den man einer älteren Generation nur schwer erklären kann: Wenige Stunden vor unseren Veranstaltungen, oft sogar einige danach, wird uns spontan abgesagt. Neben den nachvollziehbaren Gründen wie Krankheit oder Notfälle mit den Kindern werden die meisten Absagen anders begründet.Man könne „wegen Selfcare“ nicht kommen; es sei „einfach etwas zu viel heute“, oder für den Abend „fühle man es noch nicht“, auf eine Feier zu gehen, selbst wenn man zugesagt hatte. Manche waren „zu müde“, oder es hat einfach „zu viel geregnet“ und sie seien aus Zucker. Eine Bekannte meinte, sie habe uns zwar verbindlich zugesagt, aber sie habe spontan noch eine andere Einladung bekommen, und die ziehe sie vor – das wäre für sie besser. Man müsse schließlich erst einmal an sich denken. Ein geladener Gast schrieb mir, er habe in zwei Wochen einen Termin, daher könne er sich nun die Zeit doch nicht nehmen.
Alltägliche Respektlosigkeit
Hannah Panidis, eine Expertin für respektvolle Kommunikation, wendete sich neulich in einem Reel gegen die Hypothese: Wenn jeder für sich sorge, sei für alle gesorgt. Diese hyperindividualistische Sicht ignoriert jede Logik der Gemeinschaft. Wer nur für sich sorgt, der ist anderen gegenüber erst einmal: respektlos. Eine Gemeinschaft ist immer mehr als die Summe ihrer Mitglieder, und sie lebt davon, dass wir etwas für andere tun und nicht egoistisch agieren.
Die Grundidee, für sich selbst zu sorgen, ist natürlich richtig – nur war damit nicht gemeint, sich selbst anderen vorzuziehen, Verpflichtungen zu ignorieren und unverbindlich zu sein. Niemand zwingt einen, Verbindlichkeiten einzugehen; in keinem Gesetz steht geschrieben, man müsse zusagen. Aber wer einen Termin bestätigt oder eine Einladung annimmt, wird von anderen in der Regel ernst genommen; er wird eingeplant oder er übernimmt eine Aufgabe für die Gemeinschaft.
Die Lügen der Selfcare
Der Anglizismus der „Selfcare“ macht mich daher inzwischen skeptisch. Die ursprüngliche Idee mag gut gewesen sein, doch die Praxis ist es nicht! Sie entspringt einer enorm leistungsorientierten, vielleicht sogar leistungskranken, US-amerikanischen Kultur. Sie beruht auf dem Irrtum, dass man sich etwas Gutes tue, wenn man die eigenen Befindlichkeiten über die Anliegen anderer stellt. Dabei könnte man sich an eine alte christliche Einsicht erinnern: Wer für andere etwas tut, wer selbstgewählte Verpflichtungen einhält – der tut auch etwas für sich selbst.
Es tut seelisch überaus gut, von sich absehen zu können!
Der andere Weg führt vor allem zu einem Egoismus, in dem Menschen nur noch um sich selbst kreisen. Der Selbstbezug verhindert die Gemeinschaft, und er führt nicht einmal den Einzelnen zum Glück. Er macht nur einsam und enttäuscht das Umfeld. Selbst der Weg nach innen führt vor allem über andere, sonst wird er zum Gefängnis.
Es wäre daher ein Fortschritt, „Selfcare“ wieder in „Care“ zu verwandeln. Es ist ein überaus heilsames Gefühl, die Kraft der Gemeinschaft zu stärken: im Notfall wird nur die einen tragen.