Die Bremer Stadtmusikanten
Wie Märchen unsere persönliche Entwicklung fördern
Märchen waren für viele Menschen fester Bestandteil ihrer Kindheit. Der psychologische Schatz, der in den Volksmärchen verborgen ist, zeigt sich jedoch erst den erwachsenen Leserinnen und Lesern. Redakteur Paul Hasel hat sie kürzlich für sich wiederentdeckt.

Vor gut zwei Jahren habe ich dann das Märchenlesen mit meinem jüngsten Sohn wiederentdeckt. Bekannte hatten uns eine Kiste mit ausgemisteten Büchern geschenkt. Darunter ein Märchenbuch, dass für uns beide bis heute einen großen Schatz darstellt: die „Bremer Stadtmusikanten“.
Viele Sätze aus dem Volksmärchen, das von den Brüdern Grimm 1819 in ihrer berühmten Sammlung Kinder- und Hausmärchen erstmals veröffentlicht wurde, kennt mein sechsjähriger Sohn auswendig. Und immer wieder schauen wir uns in der reich bebilderten Ausgabe die Berge von geklautem Gold und Silber an, die die Räuber in ihrem Haus tief im Wald horten. Auch an den üppigen Speisen, die Esel, Hund, Katze und Hahn genießen können, nachdem sie die Räuber vertrieben haben, können wir uns nicht sattsehen, immer wieder gibt es etwas Neues zu entdecken. Und mittlerweile kann ich tatsächlich sagen, dass die „Bremer Stadtmusikanten“ meinem Sohn sogar dabei geholfen haben, die Welt ein Stück weit besser zu verstehen.
Auch Erwachsene profitieren von Märchen
Was mir hingegen lange Zeit nicht klar war: Auch ich als Erwachsener kann von einem Märchen profitieren. Gerade die Volksmärchen zeigten uns, wie man sein Leben als erwachsener Mensch in einer guten Weise bewältigen und Herausforderungen bestehen kann, erklärt der Münchner Diplom-Psychologe Robert Bögle. Der Psychotherapeut hat in seiner aktiven beruflichen Zeit die Botschaft der Märchen genutzt, um die Lebensgeschichten seiner Patienten aufzuarbeiten.
Märchen unterstützten den Entwicklungsprozess, wie man langsam seelisch reifen und ein guter erwachsener Mensch werden kann.
Bevor die Brüder Grimm ihre Märchensammlung herausgegeben haben, seien die Geschichten nicht für Kinder gedacht gewesen. Erwachsene hätten sie sich abends beim Spinnen oder am warmen Ofen erzählt. Märchen kämen aus der Erwachsenenwelt, seien dann aber mit Blick auf die Kinder pädagogisiert worden, „wo sie aber gar nicht alle hingehören“. Allerdings, so Bögle, eigneten sich nicht alle Märchen für den Einsatz in der Psychotherapie. Zum Einsatz kämen vor allem die Volksmärchen, „denn die haben in der Regel einen guten Ausgang“. Kunstmärchen dagegen seien für den Entwicklungsprozess eines Erwachsenen nicht förderlich. Als Beispiel nennt Bögle Hans Christian Andersens Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ oder „Die Meerjungfrau“. Beide seien melancholische und traurige Märchen.
Frauenmärchen vs. Männermärchen
Eine weitere Unterscheidung macht der Psychologe im Ruhestand: Kommt eine Frau in die Therapie, müsse man ein „Frauenmärchen“ anwenden und bei einem Mann ein „Männermärchen“. So kämen im Märchen „Frau Holle“ nur Frauen vor. Die Mutter, die beiden Kinder, die zu Gold- und Pechmarie werden, und „die große Frau Holle, die ursprüngliche Muttergöttin, die in den matriarchalen Kulturen unseres europäischen Systems weit verbreitet war“. „Frau Holle“ sei also ein typisches Märchen, „das sich auf die Heranreifung von Frauen bezieht“ und dementsprechend benutzt werden könne. Für Männer eigneten sich Märchen wie „Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet“ oder auch „Der Eisenhans“. In beiden Geschichten „geht es um eine Männerinitiation, ein Erwachsenwerden von männlichen Jugendlichen zu Männern“.
Ist das passende Märchen gefunden, liegt die Initiative zunächst beim Therapeuten. „Ich versuche herauszufinden, welche Ressourcen der Patient noch brauchen könnte, um in seiner psychischen Entwicklung stärker zu werden, und dann schaue ich: Wie schafft das denn der Held oder die Heldin im Märchen, die Prüfungen zu bewältigen, welche Unterstützung bekommen sie dabei?“. Die Auseinandersetzung damit könne beim Patienten im Idealfall zu einem Aha-Erlebnis führen: Er erkennt, dass er in sich einen „inneren Helfer“ habe, mit dem er die Herausforderung oder die persönlichen Probleme meistert. „Insofern übertragen wir die Erfahrung der Märchen auf die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Patientinnen und Patienten.“
Innere Helfer für die eigene Lebenssituation entdecken
Wer nicht unbedingt psychologische Hilfe braucht, sondern einfach seine Lebenssituation besser verstehen möchte, dem rät Bögle, ein Märchen aufmerksam zu lesen. Wenn zum Beispiel der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet, einen Löwen als Begleiter bekommt, „dann müsste der Leser die mutige, löwenhafte Seite in sich entdecken“. Insofern könnten wir mit Hilfe der Märchen erkennen, dass uns eine bestimmte Fähigkeit oder Stärke fehlt, die wichtig wäre für unsere persönliche Weiterentwicklung. Dieser Expertentipp hat mich hellhörig gemacht, und ich frage mich, inwiefern ich aus meinem Lieblingsmärchen, den „Bremer Stadtmusikanten“, etwas für mich entdecken könnte. Als Orientierung gibt mir Bögle mit, dass die Tiere sich aus einer Situation der Überflüssigkeit zusammenschließen und aufbrechen. Erzählt werde ein „Teamwork-Märchen“: Eine gute Mannschaft schaffe es, auch die gefährlichsten Räuber zu besiegen. Heißt das, dass ich noch an meiner Teamfähigkeit arbeiten muss? Bei der nächsten Märchenstunde mit meinem Sohn werde ich es vielleicht herausfinden.